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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kerr
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silbern auf dem roten Wachstuch des Tisches, daß Anna plötzlich wußte, Weihnachten würde in Ordnung sein.
    Die Geschenke waren, verglichen mit den vergangenen Jahren, bescheiden, aber weil man sie jetzt nötiger hatte, freute man sich genauso. Anna bekam einen neuen Malkasten und Max eine Füllfeder.
    Omama hatte etwas Geld geschickt, und Mama hatte Anna von ihrem Anteil neue Schuhe gekauft. Anna hatte sie im Geschäft anprobieren müssen, darum war es keine Überraschung - aber Mama hatte sie gleich nach dem Kauf versteckt, so daß sie zu Weihnachten noch neu waren. Sie waren aus dickem braunen Leder mit Goldschnallen, und Anna kam sich großartig darin vor. Sie bekam auch einen Bleistiftanspitzer in einer kleinen Dose und ein Paar handgestrickte rote Strümpfe von Frau Zwirn. Und als sie glaubte, sie hätte alle ihre Geschenke gesehen, fand sie noch eins - ein sehr kleines Päckchen von Onkel Julius.
    Anna machte es vorsichtig auf und stieß einen entzückten Schrei aus. »Wie schön!« rief sie. »Was ist das?«
    Im Seidenpapier lag ein kurzes Silberkettchen, an dem winzige Tiere hingen. Da waren ein Löwe, ein Pferd, eine Katze, ein Vogel, ein Elefant und natürlich ein Affe.
    »Es ist ein Amulettarmband«, sagte Mama und befestigte es um Annas Handgelenk. »Wie nett von Julius.«
    »Es ist auch ein Brief dabei«, sagte Max und reichte ihn Anna. Anna las ihn laut vor.
    »Liebe Anna«, stand da, »ich hoffe, dieses kleine Geschenk wird Dich an unsere vielen Besuche im Berliner Zoo erinnern. Ohne Dich ist es dort gar nicht mehr so schön. Bitte grüße Deine liebe Tante Alice.
    Ich hoffe, es geht ihr gut. Sag ihr, daß ich oft an sie denke, und an ihren guten Rat, den ich vielleicht hätte befolgen sollen. Viele Grüße an Euch alle. Dein Onkel Julius.«
    »Was soll das heißen?« fragte Anna. »Wir haben doch keine Tante Alice.«
    Papa nahm ihr den Brief aus der Hand. »Ich glaube, er meint mich«, sagte er. »Er nennt mich Tante Alice, weil die Nazis die Briefe oft öffnen, und er könnte in Schwierigkeiten kommen, wenn sie wüßten, daß er mir schreibt.«
    »Was für einen Rat hast du ihm denn gegeben?« fragte Max.
    »Ich habe ihm geraten, Deutschland zu verlassen«, sagte Papa und fügte leise hinzu: »Armer Julius.«
    »Ich will ihm schreiben und ihm danken«, rief Anna, »und ich werde ihm mit meinem neuen Farbkasten ein Bild malen.«
    »Ja«, sagte Papa, »und schreib ihm, daß Tante Alice grüßen läßt.«
    Dann stieß Mama plötzlich einen Schrei aus, woran sie inzwischen gewöhnt waren.
    »Mein Hühnchen!« schrie sie und stürzte in die Küche. Aber es war nicht verbrannt, und bald setzten sie sich zu einem richtigen Weihnachtsessen, das Mama ganz allein gekocht hatte. Außer dem Hühnchen gab es Röstkartoffeln und Möhren und hinterher Apfeltorte mit Sahne. Mama war dabei, eine ganz gute Köchin zu werden. Sie hatte sogar Lebkuchenherzen gebacken, denn die gehören zu einem richtigen deutschen Weihnachten. Irgend etwas stimmte daran nicht ganz, denn sie waren weich geworden, statt hart und knusprig zu bleiben, aber sie schmeckten doch ganz gut.
    Am Ende der Mahlzeit goß Papa allen ein wenig Wein ein, und sie tranken sich zu.
    »Auf unser neues Leben in Frankreich!« sagte er, und alle wiederholten: »Auf unser neues Leben in Frankreich.«
    Mama trank den Wein nicht richtig, denn sie sagte, er schmecke wie Tinte, aber Anna schmeckte er und sie trank ein ganzes Glas. Als sie endlich ins Bett ging, war ihr ganz wirr im Kopf, und sie mußte die Augen schließen, weil sich der gelbe Lampenschirm und der Schrank drehten.
    »Das war ein schönes Weihnachten«, dachte sie.
    Und bald würde sie in die Schule gehen und erfahren, wie das Leben in Frankreich wirklich war.

14
    Anna ging nicht so bald zur Schule, wie sie erwartet hatte. Mama hatte Max in einem Lycee für Jungen für Anfang Januar angemeldet - ein Lycee war eine französische höhere Schule - aber es gab nur sehr wenige Lycees für Mädchen in Paris, und diese waren alle überfüllt, und es gab lange Wartelisten.
    »Wir können uns eine Privatschule nicht leisten«, sagte Mama, »und ich glaube nicht, daß es richtig wäre, dich in eine ecole communale zu schicken.«
    »Warum nicht?« fragte Anna.
    »Diese Schulen sind für Kinder, die die Schule sehr früh verlassen, und ich glaube nicht, daß der Unterricht dort gut ist«, sagte Mama. »Zum Beispiel würdest du dort kein Latein lernen.«
    »Ich brauche doch kein Latein zu lernen«, sagte

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