Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
Anna, »ich werde genug damit zu tun haben, Französisch zu lernen. Ich möchte einfach gern zur Schule gehen.«
Aber Mama sagte: »Es hat keine Eile. Gib mir ein wenig Zeit, mich umzuhören.«
Max ging also zur Schule, und Anna blieb zu Hause. Die Schule, die Max besuchte, lag fast auf der anderen Seite von Paris. Er mußte morgens früh die Metro nehmen und kam erst nach fünf zurück. Mama hatte diese Schule gewählt, weil die Jungen dort zweimal in der Woche Fußball spielten. In den meisten französischen Schulen fand sich keine Zeit um Sport zu treiben - es gab nur Arbeit.
Am ersten Tag schien die Wohnung öde und leer ohne Max. Am Morgen ging Anna mit Mama einkaufen. Das Wetter war sonnig und kalt, und Anna war im vergangenen Sommer so sehr gewachsen, daß zwischen dem oberen Rand ihrer gestrickten Strümpfe und dem Saum ihres Wintermantels eine breite Lücke klaffte. Mama betrachtete die Gänsehaut auf Annas Beinen und seufzte.
»Ich weiß nicht, was wir mit deinen Kleidern machen sollen«, sagte sie.
»Es geht schon«, sagte Anna. »Ich habe ja den Pullover an, den du mir gestrickt hast.«
Dieser Pullover war, dank Mamas seltsamer Stricktechnik, zu einem großen, dicken und dichten Kleidungsstück geworden, durch das keine Kälte durchdrang, es war ein sehr nützlicher Pullover. Die Tatsache, daß nur ein paar Zentimeter von Annas Rock darunter hervorkamen, schien unwichtig.
»Also, wenn es dir wirklich warm genug ist, wollen wir zum Markt gehen«, sagte Mama, »dort ist alles billiger.«
Der Markt war ziemlich weit entfernt, und Anna trug Mamas Einkaufsnetz durch eine Reihe von gewundenen Gassen, bis sie endlich auf eine breite, von Menschen wimmelnde Straße kamen, die rechts und links von Buden und Ständen gesäumt war. Die Stände verkauften alles von Kurzwaren bis zu Gemüse, und Mama bestand darauf, alle zu sehen, bevor sie etwas kauften, damit sie auch für ihr Geld das Beste bekamen.
Die Eigentümer der Stände und Läden riefen ihre Waren aus und hielten sie den Leuten hin, und manchmal war es für Mama und Anna schwer, weiterzugehen, während Zwiebeln und schöne, sauber geschrubbte Mohren ihnen vor die Nase gehalten wurden. Manche Läden hatten nur spezielle Waren.
Einer verkaufte nichts als Käse, es mußten mindestens dreißig verschiedene Sorten sein, die alle sorgfältig in Mull eingehüllt waren und auf einem Brett auf Böcken auf dem Bürgersteig zur Schau gestellt wurden.
Plötzlich, gerade als Mama einen Rotkohl kaufen wollte, hörte Anna, wie eine fremde französische Stimme sie ansprach. Sie gehörte einer Dame in einem grünen Mantel. Sie trug eine mit Waren vollgestopfte Tasche und lächelte Anna aus freundlichen braunen Augen an. Mama, die immer noch an den Kohl dachte, erkannte sie zuerst nicht. Dann rief sie erfreut: »Madame Fernand!« und sie schüttelten sich die Hand.
Madame Fernand konnte überhaupt kein Deutsch, aber sie und Mama sprachen zusammen französisch.
Anna bemerkte, daß, obgleich Mamas Stimme immer noch nicht sehr französisch klang, sie doch flüssiger sprach als bei ihrer Ankunft. Dann fragte Madame Fernand Anna, ob sie schon französisch sprechen könne, sie sprach die Worte so langsam und klar aus, daß Anna sie verstehen konnte.
»Ein wenig«, sagte Anna, und Madame Fernand klatschte in die Hände und rief: »Sehr gut!« und sagte, sie habe einen perfekten französischen Akzent.
Mama hielt immer noch den Rotkohl in der Hand, den sie hatte kaufen wollen, und Madame Fernand nahm ihn ihr sanft aus der Hand und legte ihn auf den Tisch zurück. Dann führte sie Mama um eine Ecke zu einem anderen Stand, den sie übersehen haben mußten und der viel schönere Rotkohlköpfe für weniger Geld hatte. Von Madame Fernand gedrängt, kaufte Mama nicht nur den Rotkohl, sondern auch noch eine ganze Menge anderes Gemüse und Obst, und bevor Madame Fernand sich von ihnen verabschiedete, reichte sie Anna eine Banane, »um dich auf dem Heimweg zu stärken«, wie Mama ihr übersetzte.
Mama und Anna wurden von diesem Zusammentreffen sehr aufgemuntert. Mama hatte Madame Fernand und ihren Mann, der Journalist war, kennengelernt, als sie zuerst mit Papa nach Paris gekommen war, und beide hatten ihr sehr gefallen. Nun hatte Madame Fernand sie gebeten, sie anzurufen, wenn sie irgendwelche Hilfe oder Rat brauchte. Ihr Mann mußte für ein paar Wochen verreisen, aber sobald er zurück war, sollten Mama und Papa zu ihnen zum Essen kommen. Mama schien von dieser Aussicht
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