Als ich lernte zu fliegen
die Straße mit dir im Buggy noch überqueren durfte, wenn die Ampel gelb wurde. Viel Belangloses, über das die beiden heftig gestritten haben; Dad schrie rum, und Mum klappte zu wie eine Auster und redete stundenlang nicht mehr mit ihm. Sogar am Morgen, als wir Yas nach ihrer Geburt im Krankenhaus besucht haben, gab es Streit, weil Mum rausgekriegt hat, dass Dad mit uns gleich zu ihr gefahren ist, ohne uns Frühstück zu machen. Er war müde und hielt Frühstück für nicht so wichtig, aber Mum war auch müde und wütend auf ihn. Was ich sagen will: Wir wissen nicht, ob sie zusammengeblieben wären, auch wenn Yasmin nicht zur Welt gekommen wäre; wir wissen nicht, ob Dad nicht auch ohne Yasmin wieder in den aktiven Dienst gewechselt und ums Leben gekommen wäre, wir wissen nicht, ob Mums Herz nicht trotzdem so früh versagt hätte. Wir wissen es einfach nicht.«
Lila hat sich umgedreht und setzt zu einer Antwort an, als sie hinter ihm eine schlanke Gestalt mit Pferdeschwanz entdeckt, in Jeans und T-Shirt. Sie hat keine Ahnung, wie lange Yasmin schon da steht, Asif genauso wenig; zutiefst beschämt folgt er Lilas Blick über seine Schulter. »Ich habe für dich eine Liste geschrieben, Lila«, sagt Yasmin und hält ihr mehrere dicht bedruckte Seiten entgegen.
»Danke, Yas«, antwortet Lila, tritt auf sie zu und begrüßt sie mit der üblichen überschwänglichen, erdrückenden Umarmung. Yasmin lässt sie passiv über sich ergehen, ohne zurückzuzucken.
»Du hast besser gerochen, als du noch Make-up getragen hast«, sagt Yasmin. »Ich mochte den Duft von dem Zeug, das du dir ins Gesicht geschmiert hast.«
»Das war eine Grundierung von Dior«, sagt Lila. »W enn du magst, besorg ich sie dir.« Sie wirft einen flüchtigen Blick auf die Liste. »W as ist das? Eine Art Einkaufsliste?«
»Nein«, antwortet Yasmin nach einer Pause. »Das ist eine Dankesliste. Ich habe auch eine für Asif geschrieben.« Sie zieht noch ein paar Seiten aus ihrer rosa Mappe und reicht sie ihm. Asifs Liste, bemerkt Lila, ist viel länger als ihre.
»T oll, danke«, sagt Lila. »W ir sehen uns heute Abend, wir können beim Filmgucken Champagner trinken.«
Yasmin lässt die Bemerkung erst einmal auf sich wirken und sagt dann: »Ich glaube nicht, dass mir ganz wohl dabei wäre, wenn ich den Dokumentarfilm sähe, aber ich wäre gern sicher, dass er wirklich gesendet wurde. Ich bleibe so lange in meinem Zimmer.« Und weder unhöflich noch höflich, sondern rein pragmatisch fügt sie hinzu: »Champagner werde ich auch nicht trinken. Der Alkohol verträgt sich nicht mit meinen Schlaftabletten, vielleicht muss ich mich dann übergeben.« Damit dreht sie sich um und geht wieder die Treppe zu ihrem Zimmer hoch.
Als Lila in Finchley Central auf die U-Bahn wartet, nimmt sie ihre Liste heraus und geht sie durch. Es ist wirklich eine Dankesliste. Yasmin hat im Detail alle Gelegenheiten aufgeführt, bei denen sie Grund hatte, Lila zu danken; sie reichen etwa vierzehn Jahre zurück und beginnen, als Yasmin noch ein kleines Kind war. Danke, dass du mir die Meg und Mog -Bücher vorgelesen hast, liest Lila, danke, dass du mir deinen Minizirkus geschenkt hast, als die Batterien leer waren, danke, dass du mir die Tanzbewegungen für The Wheels on the Bus beigebracht hast, danke, dass ich im Garten deine rosa Flipflops tragen durfte, danke, dass du Martin Tennant gesagt hast, er soll mich in Ruhe lassen, als er mich auf dem Spielplatz geärgert hat … Und so geht es immer weiter, bis zum letzten Punkt: Danke, dass du mir geholfen hast, neue Unterwäsche zu kaufen. Auf Asifs Bitte ist Lila letzte Woche mit Yasmin zum nächsten Marks & Spencer’s gegangen, wo es so viel Auswahl gibt, dass sogar der neurotypische Normalverbraucher Mühe haben kann, das Gewünschte zu finden. Lila ist gerührt, dass Yasmin sich an alle diese Dinge erinnert hat, aber sie hat keine Ahnung, warum sie ihr ausgerechnet jetzt dafür dankt. Als die U-Bahn einfährt, denkt Lila an Mum. Sie hat ihren Kindern immer eingeschärft, sie sollten, wenn sie ihre Freunde besucht hatten und deren Haus verließen, stets sagen: »Danke, dass ich bei euch sein durfte.«
Laufen lernen
Asif liegt im Park, ausgestreckt auf dem versengten Sommergras; sogar im Halbschatten der Bäume fühlt er sich leicht benommen und schläfrig von der Sonne. Er stützt sich auf den Ellbogen und kitzelt Melody, die schwungvoll unter ihrem Sonnenschirm hervorgerollt ist und mit hungrigem Blick
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