Als ich lernte zu fliegen
hat er nie ihren Boiler repariert, sie immer zu demselben Dermatologen geschickt, der ihr immer stärkere, hautschädigende Kortisonsalben verschrieb, und sie nicht dazu gebracht, an die Kunstakademie zurückzukehren? Aber, denkt er, während er Lila noch in den Armen hält, auch sie hat versagt. Warum hat sie das alles nicht allein geschafft, ohne einen Henry? Und warum konnte sie sich nicht auch ein bisschen um Asif kümmern? Ihm fällt wieder ein, was Mei Lin über Beziehungen gesagt hat: Sich verlieben heißt nicht, dass alles besser wird, dass die Probleme von selbst verschwinden, aber ganz sicher hilft es. Doch wo bleibt da Yasmin? Asif weiß nicht, ob Yasmin sich wie andere junge Mädchen nach romantischer Liebe sehnt, er weiß nicht, ob sie je in der Lage sein wird, genug zu geben und zu empfangen, wie es für eine Beziehung notwendig ist, wenn ihr schon etwas so Einfaches schwerfällt, wie dem anderen die Hand zu geben. Ihm kommt der Verdacht, dass er sich an ihrer Stelle auch lieber in seinem Zimmer verstecken würde.
Schließlich lässt Asif Lila wieder los. »Na, Lila, wie findest du das?«, sagt er. »Du bist Henry begegnet und ich Mei Lin. Haben wir nicht ein Wahnsinnsglück, wir beide?« In seiner Stimme schwingt ein bitterer Unterton mit. Lila sieht ihn aufmerksam und ungeduldig an.
»Lass den Scheiß, Asif«, erwidert sie scharf. »Manchmal glaube ich, du bist nicht besser als das verdammte Rain Girl da oben. Vielleicht sogar schlimmer, weil Yasmin nicht absichtlich so ist, wie sie ist, du aber schon. Hast du wirklich gedacht, wir beide würden unser ganzes Leben allein bleiben, damit Yasmin sich nicht ausgeschlossen vorkommt? Hast du dir eingebildet, wir würden ewig in unserem traurigen kleinen Dreierkreis weiterleiden und grundsätzlich jede Chance auf Hoffnung und Glück in den Wind schießen?«
»Das wollte ich damit doch überhaupt nicht sagen«, protestiert Asif. Lilas plötzliche Wut setzt ihm zu. Wie schnell sie ihn immer durchschaut! »Ich habe nur gesagt, dass wir ein Wahnsinnsglück haben, und das habe ich auch so gemeint.«
»Gut.« Lila holt tief Luft und versucht, sich wieder zu beruhigen. Sie hat seit Monaten kein Schimpfwort mehr für Yasmin benutzt und ärgert sich darüber, was ihr vor lauter Wut über die Lippen gekommen ist. »Aber hier geht es nicht nur um Glück, sondern auch um Entscheidungen. Wir haben alle ziemlich schlechte Karten bekommen, du, ich und Yas, aber wir hatten die Wahl. Wir konnten uns dafür entscheiden, uns weiter in unserem Unglück zu vergraben, oder wir konnten uns für das Leben entscheiden. Ich habe meine Wahl getroffen, Asif, und du auch.« Sie steht auf und blickt verdrossen auf den Champagner, den sie sich eigentlich gar nicht leisten kann, aber unbedingt mitbringen wollte, um die guten Nachrichten mit ihrer Familie zu feiern. Hätte sie nicht einmal, nur ein einziges Mal im Mittelpunkt stehen können? Nur zwanzig Minuten an einem Samstagnachmittag? Das war doch nicht zu viel verlangt! »Ich komme heute Abend wieder und schaue mir den Dokumentarfilm mit euch beiden an«, sagt sie. »Dann köpfen wir den Schampus.« Sie kommt sich gemein vor, sich so verbittert von Asif zu verabschieden, und sagt besänftigend: »Der Film wird echt interessant. Henry hat erzählt, sie hätten ein renommiertes Team für die Spezialeffekte beauftragt, Yasmins Synästhesie-Erleben nach ihren Beschreibungen zu simulieren; es gibt eine Filmsequenz, in der sie ein Mozart-Klavierkonzert spielt und die Musik mit Farben unterlegt ist.«
Asif nimmt das Friedensangebot mit einem unsicheren Lächeln an und begleitet Lila zur Tür. Der Abschiedskuss fällt etwas förmlicher aus als sonst, und als Lila die Gartentür erreicht, bricht etwas aus Asif heraus, was er gar nicht hatte sagen wollen. Aber die Worte platzen einfach heraus, purzeln übereinander wie Kinder auf dem Spielplatz, hastig und nicht zu bremsen. Er blickt auf die Fußmatte hinunter, als spräche er mit sich selbst: »W eißt du was? In den letzten Wochen habe ich viel darüber nachgedacht, wie es war, als wir noch klein waren; wahrscheinlich liegt es an Melody. Ich glaube, ich habe Yas für vieles verantwortlich gemacht, was in unserer Familie schiefgelaufen ist. Ich glaube, das haben wir beide getan. Aber in Wahrheit war auch vor Yasmins Geburt nicht alles nur rosig. Mum und Dad hatten dauernd blöde Streitereien wegen uns – ob die Eier für uns sieben oder zehn Minuten gekocht werden sollten, ob man
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