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Als ich lernte zu fliegen

Als ich lernte zu fliegen

Titel: Als ich lernte zu fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roopa Farooki
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geschafft, keinen Wutanfall zu bekommen. Man darf aus dem Gleichgewicht geraten, weil jemand stirbt, aber nicht, weil das die eigenen Pläne für den Tag durcheinanderbringt. Das hat jedenfalls Asif zu mir gesagt, und meistens hat er recht.
    Nach der Feier war Lila auf ihre Art sehr still, was auf das Gleiche hinausläuft, wie wenn sie sehr laut geworden wäre, denn sie war so still, dass niemand sich traute, einen Mucks zu machen, deshalb habe ich ein altes Buch noch mal gelesen ( Die Enzyklopädie der griechischen und römischen Mythologie ), weil ich dachte, Die Simpsons anzuschauen oder Tetris zu spielen wäre zu laut. Dann brach sie die dicke, karamellartige Stille, die sie verbreitet hatte, und fragte mich: »Hast du Mum denn nicht geliebt, Yasmin?« Sie merkte gleich, dass sie mich mit der Verneinung verwirrte; ich weiß, dass sie im Grunde fragen wollte, ob ich Mum geliebt hatte, und das fragte sie mich dann auch. »Hast du Mum geliebt, Yasmin?« Ich erkannte, dass es ihr ernst war und sie eine Antwort erwartete, weil sie mich Yasmin nannte. Wenn sie sauer ist und nur eine rhetorische Frage stellt, auf die man nicht antworten muss, nennt sie mich »v erdammtes Rain Girl«, »v erdammte Miss Spock« oder so. Also sagte ich: »Natürlich habe ich Mum geliebt.« (»Natürlich« bedeutet einfach »ja« und wird im Allgemeinen für eine besonders betonte Bejahung benutzt, so wie man im Französischen auf eine negativ formulierte Aussage mit »si« statt mit »oui« antwortet. Zum Beispiel antwortet man auf »Mais non!« mit »Mais si!« und nicht mit »Mais oui!« , etwa in einer Gesprächssituation wie folgender: »C’était bon!« – »Mais non!« – »Mais si!« , was grob übersetzt so viel heißt wie: »Das war gut!« – »Nein, war es nicht!« – »Doch, war es schon!«)
    Ich war damals erst vierzehn, fühlte mich aber sehr erwachsen, weil ich wusste, welche Antwort von mir erwartet wurde, und Lila sah auch gleich glücklicher aus, Asif auch, der gerade mit Sandwiches fürs Abendessen hereingekommen war. Ich wusste, dass ich das Richtige gesagt hatte, so wie man jemanden, der sich gerade wehgetan hat oder hingefallen ist, fragen muss: »Alles in Ordnung?«, obwohl man sieht, dass er verletzt oder gestürzt ist und selbstverständlich nicht alles in Ordnung ist. Solche Bemerkungen, die man rein aus Höflichkeit machen muss, finde ich auch heute noch ein bisschen blöd.
    Ich wünschte, ich hätte tief im Inneren gewusst, was die Worte »ich habe Mum geliebt« bedeuteten, aber ich war mir nicht sicher. Sogar jetzt bin ich mir noch nicht sicher, ob ich weiß, was Liebe bedeutet, die von Lila gemeinte Liebe, die etwas anderes ist, als wenn man sagt, ich liebe Mozart oder Käsekuchen. Es macht mich ein bisschen traurig, dass ich etwas, was für Lila und Asif so wichtig ist, nicht verstehe, aber ich glaube, das ist nicht meine Schuld. Und wenn ich zu ihnen gesagt hätte, »euch liebe ich auch«, dann wären sie einen Schritt auf mich zugekommen, in meine Welt hinein, das habe ich gespürt. Aber ich habe es nicht gesagt, weil ich wusste, dass es bloß Worte gewesen wären und nicht von etwas wirklich Empfundenem abgeleitet. Und dann habe ich mich schlecht gefühlt, weil ich mir wirklich sehr wünschte, in den Arm genommen und getröstet zu werden wie als kleines Kind in Mums Armen. Aber diese Sehnsucht war nur eine verschwommene Erinnerung, denn ich wusste, ich wäre zurückgezuckt und hätte vielleicht sogar geschrien, wenn mich in diesem Moment tatsächlich jemand angefasst hätte. Und vor mir wurde alles rot mit orangefarbenen Flecken, deshalb bin ich einfach mit meinem Buch in mein Zimmer gegangen und habe die Tür hinter mir zugemacht.

Ein Kunstwerk
     
     
     

     

     
    Am verregneten Sonntagmorgen nach Yasmins Ankündigung, dass sie in Kürze gefilmt und zweifellos auch noch berühmt werden wird, hockt Lila zu Hause in ihrer zugemüllten Wohnung. Jetzt ist Yasmin bald jedermanns Hätschelkind, der Lieblings-Vorzeigefreak, grübelt Lila verbittert. Als wäre es noch nicht genug, dass sie sich Mum unter den Nagel gerissen hat. Jetzt will sie es auch noch zu Weltruhm bringen wie so ein Möchtegern-Popstar – heute Finchley in Nordlondon, morgen die ganze Welt. Dabei ist Asperger ja gar nicht so selten, murrt Lila weiter, es gibt Hunderte und Aberhunderte nicht-neurotypischer, spezialbegabter Deppen da draußen, aber die Fernsehtypen haben sich Yasmin ausgeguckt, weil sie eine dürre Neunzehnjährige ist

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