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Als ich lernte zu fliegen

Als ich lernte zu fliegen

Titel: Als ich lernte zu fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roopa Farooki
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nicht aus wie die Dinge, die sie darstellen sollen«, hatte Yasmin kritisiert, mit ihrem Talent für nervige Exaktheit, die den springenden Punkt aber völlig verfehlt.
    »Das ist eben meine Sicht der Dinge«, hatte Lila abgewehrt. »W enn ich gewollt hätte, dass sie aussehen wie in der Realität, dann hätte ich sie fotografiert.« Dies wiederum stachelte Yasmin zu einem öden Monolog über digitale Bilderfassung an, über Pixel und Auflösung, eine ihrer vielen zwanghaften, aber kurzlebigen Interessen, von denen sie ein enzyklopädisches Wissen voller ermüdender Einzelheiten zurückbehält. Lila wusste aus Erfahrung, dass sie Yasmin am besten so lange labern ließ, bis ihr der Stoff ausging; jede Unterbrechung würde das Ganze nur verlängern, da sie anschließend genau dort fortfahren würde, wo sie aufgehört hatte. Also ließ Lila ihre kleine Schwester reden, während sie innerlich kochte; dass sie nicht wie Yasmin akribisch genau jedes kleinste Detail zeichnete, bedeutete noch lange nicht, dass ihre Arbeit keinen Wert besaß. War es Einbildung, oder hatte Yasmin ihr eisiges Urteil wirklich mit einem mitleidigen Blick begleitet?
    Lila weiß nicht, warum ihre kleine Schwester sie immer noch so nervt; schließlich sind sie beide inzwischen erwachsen, und Lila hat ihre eigene Wohnung, ihren eigenen Job und eine eindrucksvolle Reihe gescheiterter Beziehungen vorzuweisen, alles in relativ jungen Jahren. Wenn sie bei Yasmin herumsitzt, dann nur noch freiwillig; trotzdem brütet sie zwanghaft über Worten, die vor ewigen Zeiten mal gesagt wurden, wahrscheinlich sogar ohne böse Absicht. Lila weiß nicht, warum sie immer noch so traurig und gereizt wird, wenn sie an Yasmin denkt. »W arum dreht sich immer alles um Yasmin?«, fragt Lila ihr Bild, eine bedrohlich sich auftürmende Landschaft in Öl mit winzigen Brocken verbogenen Metalls, Dreck und Zweigen, die in archaischen, dicht geschlossenen Reihen in die Farbe gedrückt sind und an eine Armee erinnern, die sich für die Schlacht bereit macht.
    Lila ist immer noch entsetzt, dass ihr am Freitag die Frage nach Mums Todestag herausgerutscht ist – wie konnte sie nur? Es war nicht ihre Absicht, den Tod ihrer Mutter als Waffe zu benutzen, aber genau das hat sie getan, weil sie offenbar ein unverbesserlich rachsüchtiges Biest ist, ob sie will oder nicht. Gut für Yasmin, dass sie ausgezogen ist; wäre sie geblieben, dann hätte sie ihre Schwester vielleicht längst erwürgt. Schlimm genug, dass sie gelegentlich zu Hause auftaucht und Yasmin kleine Gehässigkeiten an den Kopf wirft. Als Entschuldigung kann Lila nur anführen, dass sie vor Kurzem an Mums Todestag denken musste. Letzte Woche hat sie in einer Ausstellung baskischer Kunst ein Bild mit dem Titel Niemand weiß, dass mein Vater gestern gestorben ist gesehen. Das hat sie an Yasmin erinnert. Auch ihr hätte am Tag, als sie von Mums Tod erfuhr, niemand angesehen, dass ihre Mutter gestorben war. Asif war bleich und in Tränen aufgelöst von der Klinik zurückgekommen, aber Yasmin hatte ihm kaum zugehört, als er ihnen die Nachricht überbrachte. Sie hatte weiter ihre Simpsons- DVD geglotzt und Asif kaum angesehen. Erst als Lila die Beherrschung verlor und anfing, Yasmin zu schütteln und sie anzubrüllen, hatte sie sich in eine Ecke zurückgezogen und zu summen angefangen, ihre übliche Stressreaktion. Schwer zu sagen, ob ihr Lilas Aggression zusetzte oder ob sie endlich kapiert hatte, dass Mum tot war. Yasmin hatte behauptet, sie hätte Mum geliebt, aber warum zeigte sie dann keine Wut, keine Trauer, keinen Schmerz oder irgendetwas ; wie konnten diese Gefühle so tief in ihrem kleinen Köpfchen, unter ihrem Pferdeschwanz begraben sein, dass nichts davon nach außen drang? Und wenn nun gar nichts drinnen ist? Alle nehmen an, dass Yasmins Innenleben lauter magische, wundersame, unausgesprochene Dinge birgt – wenn sich nun alle irren? Wenn nichts drinnen ist außer einer tickenden Maschine, die Yasmin steuert, damit sie sich bewegt, funktioniert, rechnet und Erinnerungen speichert, eine Maschine, die nichts empfindet?
    Lila mag ihr Bild nicht, es zeigt nicht genug Wut, Schmerz oder Trauer über ihren Verlust und wirkt auf sie plötzlich ein wenig angeberisch. Die Metallkringel sollen bedrohlich aussehen, kommen ihr jetzt aber nur noch lächerlich vor, wie Piercings im Milchgesicht eines Schuljungen oder eine Bikerjacke an einem biederen, asthmatischen Buchhalter. Plötzlich stellt sie sich Asif mit Piercings und

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