Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als ich lernte zu fliegen

Als ich lernte zu fliegen

Titel: Als ich lernte zu fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roopa Farooki
Vom Netzwerk:
und mit ein bisschen Rupfen und Striegeln sicher fotogener als einer der ungewaschenen Jungs mit Pizzagesicht. »V erdammte Perverslinge«, knurrt Lila und fingert nachlässig Eis direkt aus der Packung, weil sie keinen sauberen Löffel gefunden hat. Das wird sie ihnen gern höchstpersönlich sagen; ihr wurde angeboten, sich nächste Woche mit einem der Rechercheleute zu treffen, dem wird sie erzählen, was für Perverslinge sie sind, ihre kleine Schwester für höhere Einschaltquoten in der Glotze zu prostituieren, landesweit. Überhaupt ist der ganze Ansatz dieser Doku völlig falsch – »Asperger – eine Gabe«, als ließen sich Yasmins läppische Partytricks auf diese fragwürdige Asperger-Diagnose zurückführen. Ihre sogenannten Spezialbegabungen konnten genauso gut mit irgendeiner anderen neurologischen Panne zu tun haben; als sie klein war, hatte sie schwere epileptische Anfälle gehabt. Lila hat von einem Baseballspieler gelesen, der nach einer einfachen Kopfverletzung plötzlich zum Gedächtnisgenie mutierte. Wenn das stimmt, kann doch jeder zum Spezialbegabten mit Synästhesie- und Savant-Syndrom werden; dazu braucht es nichts weiter als einen gut platzierten Schlag auf die Schläfenlappen, unter den kontrollierten Bedingungen eines teuflischen Experiments. Lila schüttelt sich; was für ein Gedanke, Millionen kleiner Rain Girls warten bloß darauf, sich aus der Masse herauszuschälen wie im noch unbehauenen Steinblock verborgene Statuen. Das Eis ist inzwischen so flüssig, dass Lila es nicht mehr mit den Fingern zu fassen bekommt; sie putzt sich die Hände am T-Shirt ab, gießt sich die Matsche in den Mund, wischt mit dem Handrücken über den Sahnebart und wirft den Karton auf den überquellenden Mülleimer.
    Bis sie achtzehn war, hat Lila in einem sauberen, pedantisch ordentlichen Haus gelebt, wo alles seinen Platz hatte, wo zufällig irgendwohin geratene Dinge, wie zum Beispiel eine Reihe Münzen auf dem Heizkörper oder die Strickjacke ihrer toten Mutter über der Rückenlehne ihres Sessels, nie weggeräumt werden durften, denn das hätte bei der kleinen Schwester Tränen und Wutanfälle ausgelöst, oder schlimmer noch, ein vorwurfsvolles, verletztes Schweigen. Seit Lila es Asif allein überlassen hat, sich um Yasmin zu kümmern, feiert sie ihre Freiheit mit einem schamlosen Chaotenleben. Einem Leben als Dreckschwein, als klassisches Luder, als Schlampe. Sie entwickelt einen bizarren Stolz auf ihr Chaos, auf die Müllschicht, die so lang, so breit und so tief ist, dass sie eine Leiche darin verstecken könnte. Stattdessen versteckt sie sich selbst darin. Die wenigen Auserwählten, die Lilas Wohnung gesehen haben, können nur staunen, dass sie so frisch und lieblich daraus auftaucht wie eine makellose, aus einem Misthaufen hervorsprießende Orchidee.
    In der Wohnung läuft sie in grauer, löchriger Unterwäsche herum und sieht zu, wie die Schnecken aus den überwucherten Fensterkästen ihre feuchten, schmutzigen Fenster hochkriechen, schleimig zähe Bahnen ziehen. Nach dem Eis putzt sie sich die Zähne über der Küchenspüle, weil sie keine Lust hat, das Waschbecken im Bad zu leeren, in dem eine mit Sojasauce bekleckerte Bluse einweicht. Lila hat die glänzenden Haare mit einem Gummiband straff zurückgebunden und kratzt sich mit brutaler Heftigkeit am Arm. Immer wieder freut sie sich über die Freiheiten, die sie beim Alleinleben genießt, wenn niemand sie angeekelt beobachtet außer sie selbst und gelegentlich der Geist ihrer Mutter. Die ist bei ihrem Anblick sicher alles andere als stolz, falls sie sich überhaupt die Mühe macht, auf Lila runterzugucken – unwahrscheinlich, dass sie sich jetzt, nach ihrem Tod, für Lila interessiert, da sie schon zu Lebzeiten nicht gerade übermäßig besorgt um sie erschien.
    Lila hat sich am Samstagabend mit Wesley versöhnt, was sie auf traditionelle Weise mit enthusiastischem Vögeln gefeiert haben; trotzdem ist sie nicht enttäuscht, dass er heute schon etwas anderes vorhat und nicht vorbeikommt, denn selbst das bisschen Aufräumen, das dann fällig wäre, und die Suche nach lochfreier Unterwäsche wären ihr zu viel. Sie mag Wesley, viel mehr aber noch mag sie ihr freies Schlampenleben, und wenn sie wählen müsste, würde sie lieber ihn aufgeben, da ist sie sich sicher.
    Nachdem das Pflichtprogramm Matscheis-Frühstück und Zähneputzen an der Spüle absolviert ist, geht Lila zu der Leinwand hinüber, an der sie gerade arbeitet. »Deine Bilder sehen

Weitere Kostenlose Bücher