Als ich lernte zu fliegen
kratzen. Sie muss warten, bis die trockene, fleckige Haut aufweicht, damit sie sie abstreifen kann wie eine Schlangenhaut. Sie starrt auf ihr Künstlerskalpell in dem Porzellanbecher neben der Wanne, die blitzende, scharfe Metallklinge, die ihr fast hypnotisierend zublinkt, und schließlich kann sie nicht mehr widerstehen. Sie nimmt die Klinge, beißt sich auf die Lippe, und mit dem Kalkül einer Künstlerin und der Präzision einer Chirurgin fügt sie den bereits vorhandenen Narben sorgsam vier weitere glatte Schnitte hinzu. Sie sieht zu, wie das Blut sich dekorativ, in weichen, sanften Wirbeln mit dem Wasser vermischt, und der köstlich scharfe Biss der Wunden lässt das Jucken vergessen. Sie stellt das Skalpell in den Becher zurück, zum Rasierer und zum Kamm. Sie weiß, sie hätte es nicht tun sollen, glaubt aber, dass Wesley heute viel zu scharf auf sie sein wird, um die Schnitte zu bemerken, wie er auch die schattenhaft silbrigen Narben noch nie bemerkt hat, selbst wenn er den Mund darauf presst und die Lippen immer weiter der feuchten Spalte zwischen ihren Beinen nähert. Fast bedauert sie, dass die Narben so unauffällig sind, so wenig vom Schmerz zeigen, den sie sich zugefügt hat. Was wohl passieren würde, wenn sie Asche in die Wunden riebe wie in diesen Stammeskulturen, bei denen Narben als Zeichen der Ehre gelten, nicht als beschämend? So könnte sie ihre Schnitte zum schmückenden Juwel machen, zum Tattoo, zum Kunstwerk, zum unanfechtbaren Faktum, das ihre Verluste, ihre Qualen präsentiert. Ein an die Welt gerichteter Schrei nach Bewunderung, um Hilfe.
Als Lila schließlich fertig geschrubbt, gecremt und taufrisch zurechtgemacht ist, ein Bild natürlicher Vollkommenheit, mit feuchten, sexy Löckchen, die sich zart im Nacken ringeln, die Haut schimmernd wie ein Ballkleid, so dass die elegante Hülle aus weicher Hose und gestärkter Bluse zur Nebensache wird – als alles getan ist, betrachtet sie noch einmal ihr Gemälde. Es sieht immer noch nicht zornig genug aus, nicht verletzt, einsam oder labil genug, sondern selbstgefällig, ungefährdet und merkwürdig ordentlich. Am liebsten hätte sie es aufgeschlitzt, in Bänder zerschnitten. Als sie die Wohnung verlässt, voller Sehnsucht nach der betäubenden Heftigkeit entfesselter Leidenschaft, nach der explosiven Leere in den Armen eines Anderen, erkennt sie, dass Yasmin recht hat. Das Bild sieht nicht aus wie das, was es darstellen soll.
Yasmin Murphy
und wie sie die Welt sieht
Ich heiße Yasmin Murphy und bin weder besonders hübsch noch besonders nett, aber sehr, sehr klug, weil ich vieles kann, was andere nicht können, denn ich besitze einen Verstand, der Außergewöhnliches leistet. Aber es hat mich große Mühe gekostet, Dinge zu lernen, die anderen sehr leichtfallen, zum Beispiel jemandem in die Augen zu sehen, wenn ich mit ihm spreche, einem Fremden die Hand zu geben, wenn ich ihm begegne, zur Stoßzeit U-Bahn zu fahren, Anteilnahme zu zeigen, zu verstehen, was die Leute wirklich meinen, was etwas ganz anderes ist, als nur die einzelnen Sätze zu verstehen, die sie sagen. Seit meine Diagnose gestellt wurde, habe ich mit den Jahren große Fortschritte gemacht, und alle sagen, ich wäre nicht mehr so schlimm wie früher. Aber im Grunde begreife ich andere Menschen immer noch nicht und werde sie wahrscheinlich nie begreifen. Deshalb bin ich kein minderwertiger Mensch, und solange ich tue, als würde ich die Leute verstehen, sind sie zufrieden – mehr wollen die meisten gar nicht. Deshalb lächelt man auch, wenn jemand etwas Nettes zu einem sagt – nicht, weil man sich so darüber freut, sondern weil man dem anderen eine Freude machen und ihm den Eindruck vermitteln will, dass man sich freut.
Die meisten Menschen sind neurologisch gesehen normal, neurotypisch oder kurz NT . Ich bin nicht-neurotypisch, und als ich sechs war, wurde bei mir die Diagnose Asperger-Syndrom gestellt. Aber wie gesagt (ich wiederhole mich, weil ich Wiederholungen mag, ich kann mir gut dieselbe Simpsons -Episode siebenundzwanzig Mal hintereinander ansehen, wenn mich niemand unterbricht), alle meinen, ich wäre nicht mehr so schlimm wie früher, und viele, denen ich nur kurz begegne, merken gar nicht, dass ich anders bin. Wahrscheinlich, weil ich meistens nicht mehr so offen rede wie jetzt, denn das ist den Leuten unangenehm und sie fangen an, auf dem Stuhl herumzurutschen. Stattdessen erzähle ich ihnen etwas Normales aus meinem
Weitere Kostenlose Bücher