Als ich lernte zu fliegen
geworden wie alle anderen Männer in meiner Familie. Ich musste aber einen Bürojob annehmen, weil ich nichts Handwerkliches machen kann.« Ironisch fügt er hinzu: »Irgendwie kann man da schon von Glück reden.«
Lila sieht ihn scharf an und fragt sich, ob er Mitleid von ihr erwartet. »W ahrscheinlich gibst du dich nur deshalb mit mir ab, weil du dich dann überlegen fühlst«, provoziert sie ihn. »W eil du glaubst, dass zur Abwechslung mal du gebraucht wirst.«
»Als ob du jemanden bräuchtest – nie im Leben!«, antwortet Henry freimütig. »Du bist wahrscheinlich der unabhängigste Mensch, den ich kenne. Du würdest lieber auf der Straße schlafen, als um Hilfe zu bitten. Aber denkst du nie, dass es schön wäre, wenn jemand für dich da wäre, ob du ihn brauchst oder nicht?«
»Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst.« Lila schließt die Augen, leicht beschwipst und von der Sonne wie in einen Schwebezustand versetzt, selbst auf den kalten, drückenden Kieselsteinen.
»Ich will wohl fragen, wann ich dich endlich meine Freundin nennen darf«, sagt Henry.
» WAS ?« Lila lacht, aber Henry sieht völlig ernst aus. »W ie kommst du denn darauf?«
»W eil ich dann meiner Familie alles über diese tolle Frau erzählen kann, die ich jetzt öfter sehe.« Lächelnd verbessert er sich: »Nun ja, nicht Sehen im buchstäblichen Sinn des Wortes. Aber du verstehst schon, was ich meine.« Er fügt hinzu: »Und dann könnte ich dich ganz selbstsicher küssen.«
»Du meinst, bevor du eine Frau küsst, wartest du, bis sie offiziell zu deiner Freundin erklärt worden ist?«, fragt Lila belustigt.
»Nun ja, in meiner Situation ist es besser, auf Nummer sicher zu gehen«, meint Henry achselzuckend. »Ich habe ja nicht den Vorteil, optische Signale lesen zu können, deshalb kommt es sehr leicht zu Missverständnissen.« Er legt sich wieder neben Lila, dicht genug, dass sie seinen Atem spürt, dass sie merkt, wie seine Brust sich neben ihr hebt und senkt, aber sie berühren einander nicht.
»Ich bin geschmeichelt.« Lila blinzelt zu den Wolken hoch, die den blauen Himmel mit Schlieren überziehen. »Aber in Wahrheit bin ich kein besonders netter Mensch, und auch kein besonders glücklicher. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass du noch gern länger mit mir zusammen wärst, wenn du wüsstest, wie ich wirklich bin. Und es ist noch unwahrscheinlicher, dass ich mich in einen netteren oder glücklicheren Menschen verwandle, nur um dich nicht zu enttäuschen.«
»Ich glaube, ich habe es schon einmal gesagt«, beginnt Henry und dreht sich zu Lila. »Nur, weil etwas sehr unwahrscheinlich ist, heißt es noch lange nicht, dass es unmöglich ist.« Er hebt die Hand, zögert einen Moment und fragt: »Darf ich?« Dann streicht er leicht über eine Seite ihres Gesichts. Seine Finger gleiten zaghaft über ihre Nasenspitze, ihre Augenbraue entlang, tasten sich um ihre Augen, zum Wangenknochen, zum Kinn. »Ich habe den Verdacht«, sagt er vorsichtig, »dass du viel hübscher bist als gut für dich ist.« Seine Hand bleibt auf ihrer Wange liegen, und Lila widersteht dem Drang, ihr Gesicht in seine Handfläche zu drücken und hineinzuatmen. »Ich habe den Verdacht, du glaubst, du wärst nur an der Oberfläche etwas Besonderes.« Nach einem kurzen Moment fährt er fort: »W enn du das denkst, Lila, dann irrst du dich. Ich weiß, dass ich dich nicht sehr gut kenne, aber manchmal habe ich dieses lächerliche Gefühl, dass ich der einzige Mensch bin, der sehen kann, wer du wirklich bist – unter der Haut. Da gibt es fast nichts, was ich an dir nicht mögen könnte …«
»Außer?« Lila entzieht sich ihm.
»Außer wenn du dich selbst nicht magst«, beendet Henry seinen Satz und lässt die Hand etwas verlegen wieder sinken.
Lila entfährt ein Lacher, dann kann sie gar nicht mehr aufhören. »Du bist unbezahlbar«, sagt sie. »Du bist so ehrlich, dass es wehtut.«
»Einer meiner Fehler«, gibt Henry selbstironisch zu. »Und jetzt lachst du auch noch über mich.« Er schüttelt den Kopf. »Mein Gott, ich versinke vor Scham. Jetzt siehst du selbst, warum es besser ist, dass ich in Sachen Beziehung auf Nummer sicher gehe.«
»Ach, scheiß auf die Sicherheit«, sagt Lila, »und halt doch einmal die Klappe.« Dann dreht sie sich spontan zu ihm, legt ihm ihre eigenen Hände warm an die Wangen, spürt seine kantigen Wangenknochen, die leicht kratzigen Bartstoppeln. Sie unterdrückt einen Seufzer und schmiegt ihre Wange an die seine. Und endlich
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