Als ich lernte zu fliegen
Arbeitsplatz erst entspannen, wenn er sich vergewissert hat, dass Mei Lin das Bürogebäude betreten hat; jeden Abend hat er absurde Verlustgefühle, wenn sie Punkt halb sechs das Haus verlässt, immer leicht in Eile, da sie die Tagesmutter ablösen muss. Und wenn sie einen Moment zu früh oder zu spät aus dem Lift im fünften Stock steigt, pocht ihm das Blut in den Schläfen, weil er wissen möchte, warum. Wenn Mei Lin in der Mittagspause auf dem Gang vorbeigeht, wirft er verstohlene Blicke zu ihr hinüber, und wenn ihn niemand sieht, starrt er unverhohlen auf ihren Rücken und denkt, dass er alles, absolut alles dafür gäbe, wenn sie sich nur umdrehen, ihn freundlich ansehen oder auch nur beim Namen nennen würde. Er befürchtet, dass er ernsthaft in Gefahr ist, sich zum Narren zu machen. Er hat Yasmin vor ihr selbst beschützt, wenn ihr Verhalten ins Unsoziale umzuschlagen drohte, und hat sie sogar zu etlichen Anlässen begleitet, wenn er es für nötig hielt; aber es gibt niemanden, der ihn auf die gleiche Weise beschützt, der sich um den Kümmerer kümmert. Um sein offensichtliches Unbehagen zu verbergen, scherzt er: »Ich war zuerst hier. Da würde ich eher denken, Sie stellen mir nach?«
»Ich habe tatsächlich ein Faible für jüngere Männer«, sagt Mei Lin gutmütig, ohne den geringsten Anflug von Koketterie, und verschwindet in der Damenumkleide.
Asif betritt den Fitnessraum, einen öden, fensterlosen Kellerraum mit grau gefassten Neonröhren an der Decke. Die scheußlich kalte Klimaanlage richtet nichts gegen den feuchten Muff aus, der hartnäckig in der Luft hängt. Im Fernseher am Ende des Raums läuft immer ein Nachrichtensender. Da braucht man sich kaum zu wundern, dass der Fitnessraum nicht sonderlich beliebt ist, obwohl er gratis benutzt werden darf. Die meisten zahlen lieber für das noble Fitnesscenter zehn Minuten entfernt die Straße runter, dessen Wände mit riesigen Flachbildschirmen gepflastert sind und das außerdem einen geheizten Pool und eine Sauna zu bieten hat; nur gehetzte Eltern wie Mei Lin, die nach der Arbeit nicht zum Training gehen können, oder Workaholics wie Rupert kommen für ein halbstündiges Workout in der Mittagspause hierher, denn notfalls können sie innerhalb von fünf Minuten wieder am Schreibtisch sitzen. Asif steigt auf das Ergometer zwei Geräte von der Maschine entfernt, die Mei Lin normalerweise benutzt, und beginnt, während er auf sie wartet, mit einem Aufwärmtraining. Als sie schließlich in einer lockeren Yogahose und einem ärmellosen weißen Top hereinkommt, die tintenschwarzen Haare achtlos mit einem Gummi zusammengebunden, ihre wunderbar ungeschminkte Haut in dem unschmeichelhaften Licht schimmernd, ringt Asif um Atem. Ihre nackten Arme und der fließende Stoff erinnern ihn an die Statuen griechischer Göttinnen, die zu Hunderten im Victoria & Albert Museum herumstehen; Mei Lin kommt ihm so vollkommen vor, als wäre auch sie aus Marmor gemeißelt. Ich würde alles tun, denkt er hoffnungslos, hütet sich aber davor, einen Ton zu sagen. Stattdessen nickt er ihr lächelnd zu, aber sie quiekt nur »Rupe!« und läuft zu der Ruderbank hinüber, wo Rupert seine Muskeln spielen lässt.
»Du meine Güte, Lynn! Wie geht’s dir denn? Lange nicht gesehen, wo hast du denn gesteckt?«, fragt Rupert; das Rudergerät kommt zischend zum Stillstand. Er steht auf, umarmt sie ungestüm und küsst sie züchtig auf die Wange.
»Beim Kinderkriegen, erinnerst du dich nicht?«, fragt Mei Lin. »Ich hab ein total süßes kleines Mädchen bekommen, Melody, und bin erst seit ein paar Wochen wieder im Büro.«
»Ich war ewig in Südafrika, in der Kapstädter Filiale. Bin erst am Montag zurückgekommen«, erklärt Rupert.
»Aha, deshalb die Bräune, du siehst wirklich gut aus. Wie geht’s dieser tollen Frau, mit der du vor Weihnachten zusammen warst? Patricia heißt sie, oder?«
»Oh, der geht’s super, soweit ich weiß«, antwortet Rupert achselzuckend und tut Patricia damit als belanglosen Flirt und längst passé ab. »W ie geht’s Stephen?«, fragt er. Er bemerkt die Wolke nicht, die bei dieser Frage über Mei Lins Gesicht zieht. »Ich sollte den alten Saftsack wirklich mal anrufen und zum Squash mitschleppen.«
»Ihm geht’s ebenfalls super, soweit ich weiß«, sagt Mei Lin gleichermaßen achselzuckend. »W eißt du das wirklich noch nicht? Wir haben uns vor fast drei Monaten getrennt.«
Mit plötzlichem Unbehagen schüttelt Rupert den Kopf und wirkt richtig
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