Als ich lernte zu fliegen
Brandung herumgetollt hat, ein goldener Labrador mit glänzendem Fell, kommt angerannt und beginnt, an ihnen hochzuspringen und ihnen die Hände zu lecken. »T ut mir leid, sie ist ein bisschen überfreundlich«, entschuldigt sich Henry. »Und jetzt ist sie außer Rand und Band, weil sie dienstfrei hat und am Strand herumtoben kann, nachdem sie den ganzen Vormittag gearbeitet hat, damit wir hier ankommen.«
»Das ist also die geheimnisvolle Blondine, mit der du dein Leben teilst«, sagt Lila sarkastisch und geht dann unter Daisys stürmischen Liebesbezeugungen praktisch zu Boden. »T oll, jetzt riech ich auch noch nach nassem Hund«, knurrt sie, als Daisy sie wieder abzuschlabbern beginnt und mit ihrer nassen Schnauze kitzelt. »Stopp! Schluss! Bei Fuß!«, versucht sie es ohne Erfolg. Der Hund lässt sich in seinen unerbetenen, aber ungemein sympathischen Zuneigungsbekundungen einfach nicht bremsen. »Na schön, sie ist entzückend«, gibt Lila zu, steht auf und klopft sich den Mantel ab. Als hätte Daisy nur auf diese Bestätigung gewartet, bellt sie kurz auf und springt in fröhlichen Sätzen wieder davon zum Meer.
»Finde ich auch. Aber das ist normal, schließlich ist sie mein Hund«, sagt Henry. »Hast du Lust auf einen Spaziergang?«
»Klar«, sagt Lila. »W as ist mit deinem Bier?«
»Ach, wir können später zusammen eins trinken, wenn du magst. Ich wollte das Bier gar nicht haben, ich trinke äußerst ungern allein, das deprimiert mich, aber so ein komischer Kauz aus dem Ort hier, unheimlich freundlich, wollte unbedingt, dass ich es probiere. Anscheinend das beste Bier in ganz Kent.« Lila unterdrückt ein Lachen, und als sie am Strand entlanggehen, schlüpft ihre Hand unwillkürlich wieder in Henrys. Sie merkt es erst, als es schon passiert ist.
Stunden später sitzen Henry und Lila mit großen Plastikbechern Bier am Strand und teilen sich Austern auf einem Pappteller. »Ich liebe den Strand«, sagt Henry. »Ich bin in London aufgewachsen, in einer viel zu kleinen Sozialwohnung in Southwark, mit zwei Brüdern und zwei Schwestern, und wir haben es nie bis zum Meer geschafft. Wir waren einfach zu viele, Mum war mit uns überfordert, und mein Dad hat immer nur gearbeitet. Er ist Klempner wie meine Brüder, und weil er eine so große Familie ernähren musste, hat er nie einen Auftrag abgelehnt. Ich bin erst hergekommen, als ich anfing, blind zu werden; ich wollte das Meer sehen, solange es noch möglich war.«
»Dann wusstest du, dass du blind werden würdest? Es ist nicht einfach passiert?«, fragt Lila.
Henry zuckt mit den Schultern. »Ich hatte viel Zeit, um mich darauf vorzubereiten. Die Diagnose wurde gestellt, als ich elf war. Ich bekam ein Stipendium und konnte auf eine fantastische Schule gehen, mit viel mehr Angeboten und Möglichkeiten, als meine Geschwister sie hatten. Ehrlich gesagt wurde ich nach Strich und Faden verwöhnt und umsorgt, dabei war ich damals noch gar nicht richtig blind; ein Teil des räumlichen Sehens, des Farbensehens und des zentralen Gesichtsfeldes war eingeschränkt, aber ich konnte immer noch ziemlich viel sehen und kam überall gut zurecht, habe sogar noch Sport getrieben. Meine Brüder und Schwestern wurden völlig beiseitegedrängt; sie müssen mich zutiefst gehasst haben, haben sogar behauptet, dass mir überhaupt nichts fehlt, und mich beschuldigt, alles sei nur vorgetäuscht, um mir Aufmerksamkeit zu erschleichen – heute würden sie das wahrscheinlich nicht zugeben. Es war fast, als könnten sie es kaum erwarten, dass ich wirklich blind werde und die ganze ungerechte Sonderbehandlung gerechtfertigt wäre, damit sie endlich nicht mehr wütend auf mich zu sein bräuchten und mich bedauern, vielleicht sogar wieder mögen könnten.« Henry nimmt eine Austernschale, merkt, dass sie leer ist, und legt sie beiseite. »W ahrscheinlich findest du, das klingt paranoid.«
»Nö, eigentlich nicht«, sagt Lila sachlich; sie macht sich nicht die Mühe, Henry aufzuklären. Dann hält sie ihm eine Auster hin und schlürft selbst auch noch eine; beim salzig feuchten Kick auf der Zunge überläuft sie ein kleiner Schauer. »W ie lange mussten sie denn warten, bis sie dich wieder mögen konnten?«
»Ach, nur fünf Jahre«, sagt Henry trocken. »Es ist so allmählich passiert, als würde man Zentimeter für Zentimeter ertrinken. Eines Tages bin ich zu unserem Tante-Emma-Laden gegangen und habe gemerkt, dass ich allein nicht mehr zurück nach Hause finde; es war
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