Als ich lernte zu fliegen
malerischen Umgebung so beschissen zu fühlen. Plötzlich sehnt sie sich nach ihrer verdreckten Wohnung und den grauen, vermüllten Straßen im heruntergekommenen, mürrischen Finchley, wo sie nörgeln, stänkern und verdrecken kann, ohne weiter aufzufallen. »Sie wissen nicht zufällig, wo die Royal Native Austernbude ist? Ich will dort einen Freund treffen.«
»Klar weiß ich das. Das weiß jeder hier. Ich hab mir schließlich mit der Austernfischerei meine Brötchen verdient. Leider musste ich sie aufgeben, als ich in den Siebzigern war, meine Frau hat gemeckert, ich würde mir den Tod holen. Die besten Austern in ganz Kent.« Er zwinkert ihr fröhlich zu.
»Schön«, antwortet Lila; sie will nicht unverschämt sein, schafft es aber auch nicht, höflich zu sein. »Also, wo finde ich die Bude?«
»Gleich beim Parkplatz, wie gesagt«, antwortet der Alte, und mit einem herzlichen »T schüs dann!« setzt er seinen Spaziergang fort.
Lila steigt wieder ins Auto, findet den Parkplatz und geht von dort zur Royal Native Austernbude hinüber. Vor der Bude sitzt Henry auf einer rohen Holzbank in der Sonne, ein fast volles Glas Bier vor sich. »Da bin ich«, begrüßt sie ihn, fläzt sich neben ihn auf die Bank, wickelt den Mantel fest um sich und streckt die Beine aus. Weiter unten am Wasser tollt ein Hund herum. »Ich weiß, dass ich zu spät komme«, gibt sie eher aufsässig als bedauernd zu, als wäre die Verspätung seine Schuld, nicht ihre. Sie ahnt, dass sie sich wie ein Teenager benimmt. »Die Fahrt hat länger gedauert, als ich dachte. Ist ja mitten in der Pampa, das Kaff hier.«
»W as ist denn los?«, fragt Henry.
»Nichts«, sagt Lila kurz angebunden. Einen Moment lang hängt ein ungläubiges Schweigen zwischen ihnen, dann erklärt Lila: »Ehrlich gesagt wollte ich gar nicht kommen, aber ich habe dich nicht erreicht. Ich bin hier fehl am Platz. Bin heute einfach nicht in der Stimmung, an einem Bilderbuchstrand rumzuhängen und die verdammte Landschaft zu genießen …«
Henry unterbricht sie ohne die leiseste Spur von Selbstmitleid: »Ich bin auch keiner, der die Landschaft groß genießt …« Lila betrachtet Henrys Profil, seine gerade Nase, seine hohen, scharfen Wangenknochen und die feinen Wimpern, die wie kleine Fächer auf den Wangen liegen, da er gerade die Augen schließt. Er muss den ganzen Weg von Putney nach Victoria Station und dann mit dem Zug hierhergefahren sein, das muss Stunden gedauert haben. Sie möchte, dass er sie anschreit, ihr ein schlechtes Gewissen macht, weil sie ihm den Ausflug verdirbt. Dann könnte sie aufatmen, dann könnte sie zurückschreien, zu ihrem Auto zurücklaufen und nach Hause fahren. Dort könnte sie an ihrem Bein kleine Schnitte machen, Zeichen für einen weiteren Sündenfall, wie die Kerben am Kopfteil eines Betts.
»Ehrlich gesagt bin ich der Gesellschaft wegen hergekommen«, erklärt er schließlich, schlägt die Augen wieder auf und wendet ihr sein Gesicht zu. Lila starrt ihn an, sein leuchtendes Lächeln in der fahlen Sonne, und ihr ganzer Ärger schmilzt dahin. Sie spürt den absurden Drang, ihr Gesicht in seinen schrecklichen Dufflecoat zu drücken und heiße, dankbare Tränen der Erleichterung zu weinen. Stattdessen rückt sie zaghaft näher, bis sich ihre Arme an den Seiten berühren, und neigt den Kopf, bis er ganz leicht, kaum wahrnehmbar, auf Henrys Schulter ruht. Er tastet nach ihrer Hand und nimmt sie in die seine, Handfläche an Handfläche, und streift mit dem Daumen leicht über ihr vernarbtes Handgelenk. Lila kann sich nicht erinnern, wann sie zuletzt mit jemandem so still dagesessen, Halt gesucht, eine Hand gehalten hat. In ihrem ganzen Leben hat sie sich noch nie so ruhig und geborgen gefühlt.
»W enn ich deine Hand halten darf, ist das definitiv ein Date«, sagt Henry.
»Du bist ein Idiot«, sagt Lila schroff in der Hoffnung, die Wärme in ihrer Stimme damit zu überdecken. »W eil du mich magst, meine ich. Ist doch klar, dass ich die reine Katastrophe bin. Ich komme viel zu spät hier an und zicke rum wie das letzte Biest, und dann sagst du was Nettes zu mir. Das geht gar nicht.«
»Ich habe gesagt, hör auf, dich so runterzumachen. Das ist möglicherweise das Einzige, was ich an dir nicht mag.« Henry steht auf und zieht Lila mit hoch. »W enn du Lust hast, stell ich dich meinem Hund vor.« Er geht ein paar Schritte nach vorn, ohne Lilas Hand loszulassen, und stößt einen leisen Pfiff aus. »Daisy!«, ruft er dann. Der Hund, der in der
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