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Als ich meine Eltern verließ - Roman

Als ich meine Eltern verließ - Roman

Titel: Als ich meine Eltern verließ - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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fortissimo , als würden mich alle anstarren. Zwei Freunde aus der Oberstufe erzählen von unseren Spritztouren, vom Zelten und Fußball – wenn auch nichts vom nächtelangen Computerspielen oder Kiffen. Abermals Musik, und zwar nicht ausschließlich live : erst eine Platte von Radiohead, dann Portishead, der dritte Titel der CD , Undenied – For so bare is my heart, I can’t hide –, neben Björk meine Lieblingsbands. Papa stellt sich vor, wie ein kleines Licht entflammt, das ich wäre. Und mit einem langen, glückseligen Lächeln hängt er dem Nachtlicht seiner Träume nach.
    Ihre Erzählung neigt sich dem Ende zu, Freitagnacht, meine extreme Erschöpfung, mein Fieber am nächsten Morgen, Schluss mit Geschenken, Rettungsdienst, Krankenhaus und dann mein Tod um 16 Uhr 17. Schneidende Stille. Aus allen Ecken hört man es schniefen.
    Annie erhebt sich. Vom hinteren Ende des Saals, den Blick tief in Mamas Augen versunken, singt sie eine Gwerz , ein bretonisches Klagelied, schlicht und ohne folkloristischen Einschlag, wie man es nur in solchen Momenten singen kann. Keine Frage, fortan wird Papa jedes Mal weinen, sobald er sich daran erinnert. In keinem Lied der Welt steckt für ihn so viel Wahres. Obwohl er kein Wort Bretonisch kann, versteht er alles: Es ist die Musik, die spricht.
    »… Marv eo ma mestrez, marv ma holl fiañs,
    Marv ma vlijadur ha tout ma holl esperañs,
    Biken’ mije soñjet nar marv a deufe …«

    »… Mein Liebchen ist tot, tot all mein Vertrauen,
    Tot meine Freude und meine Hoffnung,
    Nie hätte ich gedacht, der Tod komme …«
    In Annies Gesang steckt alles, Zärtlichkeit, Verzweiflung und offene Arme. Licht, Leid, Papa schwebt zwischen Verzückung und Ohnmacht. Das ist eine echte Zeremonie . Papa ist begeistert. Eine richtige Aufführung ist eine Zeremonie im Verborgenen. Papa zittert. »Y a d’la joie!«, flüstert ihm der Teufel Charles Trenet die Freudenbotschaft ins Ohr. Papa fantasiert. Rasender Stimmungswechsel. Stopp! Papa schlägt wieder die Trauer ins Gesicht. Von Freude keine Spur.
    Der Moment ist gekommen, die Sargträger zu bitten, den Sarg zum Ofen zu tragen. Mama und Papa geben das unzeigbare Zeichen. Dann betreten sie das gefängnisartige Besucherzimmer des Krematoriums. Wieder und wieder wollen sie meinen Sarg sehen. Was sie aber jetzt zu sehen bekommen, ist nicht der Sarg, sondern das Verschwinden des Sargs.
    Die Schiebetür des Ofens schließt sich. Hilfe. Feuer.
    Aus der Mitte der Versammelten erklingt der Bendir von Youval. Diese Musik habe ich als kleines Baby immer gehört, als Youval unter uns wohnte.
    Protokoll des Krematoriums: »Der Sarg mit dem Leichnam wurde um 15 Uhr 31 in das vorgeheizte Gerät eingeführt.«
    Mama und Papa wollten unter keinen Umständen, dass die Trauerversammlung in finsterer Atmosphäre in dem Lokal gegenüber zu Ende geht, während sie darauf warten, bis alles verbrannt ist. Begleitet vom grummelnden Geräusch des Ofens wird die Feier fortgesetzt. Noch anderthalb Stunden Erinnerungen, Musik, Stille, Worte, Schluchzer. Draußen regnet es. Auf einmal treten Pierres Umrisse in Erscheinung wie ein Nachhall auf das Gedicht, das gerade mein Freund Antoine vorgelesen hat. Pierres Anwesenheit, wenn auch flüchtig, bringt Erleichterung. Alle hatten befürchtet, dass Pierre nicht die Kraft findet zu kommen. Neben Antoine war Pierre mein bester Freund. Seine Intelligenz war faszinierend, genauso beeindruckend wie sein wahnsinnig klarer Verstand. Pierre geht draußen vor den Glastüren des Krematoriums auf und ab. Papa ist unsicher, ob er die Feier verlassen und zu ihm gehen soll. Er will so nah wie möglich bei Mama und dem Ofen sein, der mich gerade verschlingt. Wieder ringt er mit sich, ein brutaler Kampf. Bleiben? Zu Pierre gehen? Papa ist durcheinander. Er geht hinaus in den Garten, obwohl er die Feier nicht verlassen will. Draußen entdeckt er zu seiner Überraschung einen Anknüpfungspunkt: Rausgehen war ein gutes Mittel, mir näherzukommen. Papa nimmt Pierres Hand, so wie er immer meine genommen hat. Pierre lässt es geschehen. Ihre Köpfe stoßen sanft aneinander, eine zärtliche Berührung. Pierre will das Krematorium nicht betreten. Doch Papa lässt nicht locker. Er hört Noémie und Christophe drinnen Ravel spielen. Er möchte nichts lieber als ihrem Geige-Cello-Duo lauschen, und gleichzeitig ist ihm daran gelegen, jetzt bei Pierre zu sein. Außerdem will er bei Mama sein. Und bei mir. Papa will alles. Es zerrt ihn in sämtliche

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