Als ich meine Eltern verließ - Roman
Mittwoch und Samstag ist keine 19 dabei. Auch nicht die 21, meinem Alter. Oder der 4. April, oder die 28 – von 1982, meinem Geburtsjahr, etwas konstruiert, aber wenn man die 82 umdreht, wird eine 28 daraus, sein Geburtstag. Scheitern auf der ganzen Linie. Erbarmungslose Zahlenmystik. Wie verloren das Lottospiel, so verloren ist Papa, für immer.
Bei einem Trauerfall drei Tage Beurlaubung, so lauten die Arbeitsrichtlinien. Wie machen das all die Papas und Mamas, die ihren Sohn verlieren? Drei Tage Tränen, Friedhof, Aufräumen, und danach gehen sie wieder zur Arbeit? Papa weiß nicht, wie das gehen soll, sofort wieder arbeiten. Trotzdem nimmt er mit Mama sofort die Proben wieder auf. Er meint, das sei nicht das Gleiche, schließlich warte eine Produktion auf sie, La Désaccordée , seit sechs Monaten wird die Uraufführung mit Datum angekündigt. Niemand würde es ihnen verübeln, wenn sie sie absagen würden: »Nach einer solch harten Prüfung! Vier Wochen nach dem Todesfall!« Nein, nein, es gab bereits Proben, als ich noch am Leben war, letzten Monat, also müssen sie sie auch zu Ende bringen; alles andere wäre Verrat an mir. »Lion ist Teil des Universums dieser Inszenierung.« Sie nehmen die Arbeit wieder auf. Es ist ihnen wichtig.
Einer der wenigen Orte, an denen Papa mit sich im Reinen ist, ist der Friedhof von Ploaré. Über der Bucht von Douarnenez strahlendes Licht. Direkt neben meinem Grab eine Kamelie. Im Januar bald auch eine Mimose. Mitten in der mineralischen Ewigkeit sprießende Winterpflanzen, wie ein Traum von Leben im Land der Toten.
Régine ruft Papa auf dem Handy an, um ihm mitzuteilen, dass sie zur Aufführung von La Désaccordée kommen wird. Sie glaubt, Papa auf der Bühne zu stören, mitten im Aufbau, wenige Tage vor der Premiere. Doch Papa sitzt und vergießt ein paar Tränen: »Ich bin auf dem Friedhof, schön ist es hier.«
Als Susan und Robert nach der Aufführung Papa gratulieren, sagt er: »Ich werde nie wieder vollkommen glücklich sein.«
In diesem Moment ist das für Papa absolut wahr. Nein Papa, diese Wahrheit ist nicht wahr, sie ist eine zu viel , wie man so schön sagt. Du wirst diesen Nies und Immers von jetzt an einfach keine Beachtung mehr schenken, das war leichtsinnig. Nimm die Glückwünsche von Susan und Robert entgegen und halte dich mit Aussagen über das Glück zurück. Man kann nur hoffen, dass es wieder zu dir findet. Ein Jahr später sollte die Tochter von Susan und Robert sterben. Deine beiden lieben englischen Nachbarn werden ihrerseits diesen Satz sagen, genau den gleichen, den du ihnen vollkommen ahnungslos zugeflüstert hast und den sie nun auf grausame Weise zu ihrem machen.
»We know, we never will be happy.«
Vorsicht Lebensgefahr: Worte über den Tod könnten ansteckend sein.
Früher interessierte sich Papa hin und wieder für die Zukunft der Erde. Vage malte er sich den Zustand meiner Welt aus – die Welt, die ich mir machen würde, die ich lenkte oder erduldete, jene, in der ich als Erwachsener in zehn oder zwanzig Jahren leben würde. Das Einzige, was er dazu beitragen konnte, war, mir eine möglichst erträgliche Welt zu hinterlassen. Jetzt tut er nichts mehr, schaut nicht mehr nach vorn. Zeitungsartikel über Zukunftsforschung überspringt er. Die Temperatur, die im Jahr 2030 auf dem Planeten herrschen wird? Daran verschwendet er keinen Gedanken, auch nicht an die Rente, Atomenergie oder den Fortschritt, er wird nicht mehr da sein, weder er noch ich, seine Enkel, Urenkel … Die Zukunft des Planeten ist nur noch ein Thema moralischer Debatten. Die Grünen haben wahrscheinlich recht, aber auch ideologische Stimmungen erreichen ihn kaum noch. Ohne mich läuft bei ihm in der Politik alles aus dem Ruder, mal ein Linksschub, mal ein Mitte-links-Schub, mal ein Anarcho-Schub mit freiheitlich-liberaler Tendenz – jedenfalls nie nach rechts.
Mamas und Papas Training hat Tempo angenommen. Die Leute fragen sie, wie sie es ohne mich nur aushalten, und als Antwort erwartet man, dass es nicht auszuhalten sei. Sie wollen wissen, wie das mit dem Weinen ist, wie man leben und arbeiten kann und gleichzeitig immerzu an meinen Tod denken muss. Die Eltern reagieren verlegen. Sie sind keine mustergültigen modernen Stoiker. Wie zur gleichen Zeit leben, weinen und lachen?
Folgendes haben sie von Bergmann gelernt: »Wir sind alle Analphabeten, wenn es um Gefühle geht.«
Nachdem die Musiker alle abgereist waren, fühlte sich Papa unendlich traurig. Ihre
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