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Als ich meine Eltern verließ - Roman

Als ich meine Eltern verließ - Roman

Titel: Als ich meine Eltern verließ - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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links geneigt?
    Aber … ein kleines Aber wäre da noch. Als sie gerade zum Friedhof aufbrechen wollen, vollführten Mama und Papa noch schnell eine kleine Drehung um hundertachtzig Grad. Sie öffneten die Urne, was zwar nicht so frevelhaft ist, wie einen Sarg zu öffnen. Unheimlich war es ihnen trotzdem. Sie wollten noch ein letztes Mal etwas von ihrem Sohn sehen, bloß ein allerletztes Mal vor der Grablegung. Doch beim bloßen Anschauen konnten sie es nicht belassen. Mama holte einen Löffel hervor und steckte etwas Asche für zu Hause ein. Papa hat mitgemacht, ohne sich an irgendein theoretisch untermauertes Verteidigungsgerüst über die Trennung von Toten und Lebenden zu klammern. Schluss mit dem ganzen Vernunftgehabe vor der Abfahrt zum Friedhof. Mama und Papa verspürten nur noch ein einziges Grundbedürfnis: bewahren, ein wenig zurückbehalten, noch etwas von diesem Sohn, der von ihnen geht, einbehalten. Meine Asche sollte sich fast vollständig auf dem Friedhof befinden, nur ein paar Messerspitzen waren woanders, in zwei winzig kleinen Schachteln – eine in Mamas Schublade, die andere in Papas Bücherregal.
    Einige Wochen später. Unser Freund Giloup stellt das schönste Geschenk auf mein Grab, das man sich vorstellen kann: einen massiven Löwenkopf, dreißig bis vierzig Kilo schwer. Sein eigener Großvater hatte ihn vor Jahrzehnten gehauen. Ein heidnisches Totem aus Stein mitten in einem Wald aus Kruzifixen. Ein graugelber Urahn hält nun in Ploaré bei mir Wache. Ein solider Kopf mit gutmütigem und gelassenem Gesichtsaudruck, als stünde er schon seit Urzeiten dort.

5. Kapitel
    Wenn ich also an etwas denken muss, das mir fehlt, dann soll ich sagen, dass es da ist?
    Richtig, so heißt du jedes Fehlen willkommen, du bereitest ihm einen herzlichen Empfang.
    ERRI DE LUCA
    In den Fluren der Nacht wird der Tod zu dem, was er ist: eine nur fast ewig währende Trennung, unterbrochen von kurzen, ekstatischen Begegnungen des Wiedersehens. Ohne die Träume wäre der Tod sterblich – oder unsterblich? Aber er hat einen Riss, ist hereingelegt und vereitelt worden. Geister entfliehen seinen Gefilden und spenden uns Sterblichen Trost.
    HÉLÈNE CIXOUS
    MAMA KOMMT IN mein Zimmer: »Es ist Zeit, wir müssen gehen.« Ich ziehe die Decke über den Kopf und schlafe weiter. Sie schließt die Tür. Ich sehe ziemlich dünn aus, als hätte ich abgenommen; trotzdem findet sie mich schön. Mama himmelt mich an und verdreht gleichzeitig die Augen: Ich bin fast vollständig nackt unter der Decke, wie am Samstag meines Todes, als ich auf den Rettungsdienst gewartet habe.
    Papa hört zu. Er weint. Der Grund für seine Tränen: selbstverständlich mein Tod, was sonst, aber auch die Stunden vor meinem Tod, während er Zeit damit vertrödelt hat, am Samstag im Supermarkt den Einkaufswagen vollzuladen. Papa weint auf Knopfdruck.
    Sie nennen ihre Träume Besuche. »Ereignisse der Nacht«, heißt es bei Victor Hugo. »Freude der Wiederkehr«, schreibt Hélène Cixous. Sie lauern meinen Besuchen auf, ich bin ihr Ereignis, ihre Freude.
    Sie handeln nicht gerade vernünftig. In allem, was ihnen zwischen die Finger kommt, suchen sie nach meinem Tod. Ihr Lieblingsort ist zurzeit der Friedhof. Ihre spontane Haltung, wenn sie allein sind: umschlungene Hände, Kopf an Kopf und weinen. Überall im Haus befinden sich Fotos von mir. Das hilft nicht gerade dabei, nicht zu weinen.
    Syllogismus: Immer wenn Papa an mich denkt, weint er. Papa ist nur dann glücklich, wenn er an mich denkt. Papa ist also jedes Mal glücklich, wenn er weint.
    Papa sagt, dass er nie wieder versuchen wird, bei einem Glücksspiel zu gewinnen. Er meint, mein Tod habe ihn gelehrt, was es heißt zu verlieren. Spielen bedeute, den Teufel in Versuchung zu führen, der Verlockung aufzusitzen, nicht verloren zu haben. Papa sagt, er würde alles geben, damit ich nicht tot wäre. – Sieh an, noch so eine Floskel, die nicht mehr nur Plattitüde ist, sondern sich geradezu bewahrheitet hat: »Ich würde alles geben, damit er noch lebte!« – Er hätte ein schlechtes Gefühl, würde er im Lotto gewinnen. Er hat alles verloren, und jetzt ist ihm, als müsste er diesem Verlust treu bleiben. Nichts mehr gewinnen.
    Papa spielt trotzdem Lotto. Im Tabakladen kreuzt er mein Geburtsdatum an, das Datum, bei dem er ins Stocken kam, als uns der Rettungsdienst danach gefragt hat. Er versucht, seinen Versprecher irgendwie wiedergutzumachen, wenigstens das, weg mit dem Mist.
    Bei den Ziehungen vom

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