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Als ich meine Eltern verließ - Roman

Als ich meine Eltern verließ - Roman

Titel: Als ich meine Eltern verließ - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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ununterbrochen begleitet. Beim Leben.
    Wie alle anderen Mamas und Papas finden sie es schön, auf Zeichen ihres Kindes zu stoßen und darüber zu reden.
    Als ich klein war, liebte ich wie alle Kinder und auch Erwachsenen Überraschungen, Zauberkunststücke und alles, was unwahrscheinlich war. Magie. Ich habe es geliebt, wenn mich Papa auf meinem kleinen Kinderbett sitzend am Abend mit auf Märchenreise nahm. Er konnte gut Geschichten vorlesen, dachte sich in sie hinein, als würde er sie für wahr halten. Es war schön, Daumen zu lutschen und den Märchen zu lauschen. Wir waren beisammen. Alles Zauberhafte machte mich glücklich. Papa ebenfalls. Alles war wirklich wahr.
    Mama dachte sich die Geschichten, die sie mir erzählte, von Anfang bis Ende aus. Das war noch wahrer.
    Jedes Jahr, von 2004 bis 2009, kehrten Mama und Papa nach Island zurück, an den Fuß des Eyjafjallajökull. Sie konnten den Gletscher und seine Wasserspiegelungen absuchen, wie sie wollten, sie haben keinen Löwen mehr gefunden. Vermutlich waren sie nicht mehr konzentriert genug. Vermutlich kann man Konzerte nicht jeden Tag auf so zauberhafte Weise spielen. Die Gnade hat ihre Höhen und Tiefen. Der Steinhügel war noch immer da, allerdings ohne Giloups weißen Schal, den sicherlich der Wind fortgetragen hatte. Jahr für Jahr haben Mama und Papa lange Momente am Ufer des Sees verbracht. Bevor sie wieder aufbrachen, legten sie einen neuen Stein auf ihren isländischen E. T. Dann setzten sie ihre Wallfahrt entlang der einzigartigen Kammlinie des Kraters fort. Jedes Mal haben sie viele Tränen vergossen.
    In den letzten Jahren war der Sommer nicht so heiß wie 2004. Die Flüsse führten kein Hochwasser. Mama und Papa konnten auf der Strecke weiterfahren und andere Furten überqueren.
    »Man kann damit leben«, hatte ihnen ein Freund gesagt, der ebenfalls um seinen Sohn trauerte.
    Papa hat sich nicht getraut, ihn zu fragen, ob sein finsteres Leid als Waisenvater auch von so schönen Geschichten aufgehellt wird wie seins. Er ist jedenfalls überzeugt davon, dass sie beide, Mama und Papa, nicht damit leben könnten, wenn es nicht die Aneinanderreihung von Zufällen und Episoden gegeben hätte, die das Leben um meinen Tod gesponnen hat. Sonst wäre es einfach unerträglich . Etwas Pathos hat er immer zur Hand.
    Im Laufe der Jahre, und das lässt sich durchaus feststellen, ist der Schmerz ein wenig abgeklungen.
    »Gar nicht wahr!«, protestiert Mama.
    Es gibt kein objektives Maß für den Schmerz? Immerhin aber ein paar Anhaltspunkte. Zum Beispiel der langsamer werdende Rhythmus der Weinkrämpfe. Oder die zurückgehende Zahl der benötigten Antidepressiva, Beruhigungsmittel und Besuche beim Psychologen. Das sind messbare und recht objektive Werte.
    Wie eine grüne Oase ist die Erzählung in ihnen gediehen. Zwischen 2003 und 2010 war ihnen mein Tod mithilfe dieser Geschichten irgendwie möglich geworden. Sie haben sie, so oft es ging, erzählt, wobei sie auf fiktivem Gelände von Zufall zu Zufall humpelten. Doch auf einmal geschah Mitte April 2010 noch eine außerordentliche Wendung, ein neues Wunder für neue Erzählungen: In der Woche meines achtundzwanzigsten Geburtstags ist »mein« Vulkan aufgewacht. Die ganze Welt mühte sich ab, diesen »unaussprechlichen« Namen über die Lippen zu bekommen: »Eyjafjallajökull«, als diese Silben in ihren Ohren schon seit Langem wie vertraute Musik klangen – Ey-afja-tla-jökudl. Sie murmelten sie vor sich hin wie einen Abzählreim. Mama und Papa waren davon ausgegangen, dass dieser Ort ein Geheimnis allein zwischen ihnen sei. Sie haben ihn für friedlich und ewig ruhend gehalten, und mich wähnten sie friedlich zu seinen Füßen. Bis es im Frühling zu dieser gewaltigen Explosion kam und der Vulkan zehn Kilometer hoch Rauch ausspuckte, meine und seine Asche vermischt. Die lang gezogenen und kurzen Silben des Vulkans fielen über die Welt her.
    Ich mache wahrhaftig keine halben Sachen, ein Vulkanausbruch, das ist das Mindeste! »Eyjafjallajökull!« Sie sehen mich in allen Zeitungen auf der Titelseite. Sie jauchzen und rufen mir schrill hinterher. Sie ermutigen mich, den Flugverkehr lahmzulegen. Absoluter Wahnsinn. Die Geschichte, die sie ihren Freunden erzählen, wird immer unglaublicher, glücklicher, wundersamer und lustiger. Sie endet in einem regelrechten Feuerwerk. Mit einem derart frechen Sohn lässt es sich kinderleicht Geschichten erzählen.
    An manchen Tagen saugen Mama und Papa die kleinen

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