Als ich meine Eltern verließ - Roman
Jugendlicher.«
Erinnerungen an die so verhassten, endlosen Streitereien ziehen auf. Nein, nicht verhasst, bedauert, geliebt. Papas Gedanken schießen kreuz und quer. Die Streitereien sind Teil der Erinnerungen der Gegenwart. Also war er lebendig, also war es ein Glück . Papa versucht, sich zu überzeugen, wo es nur geht.
Mama redet weiter: »Jeder Tag in dieser Woche, wenn wir uns sahen, war voller Liebe. Es gab nicht die kleinste Spannung zwischen uns. Kein Augenblick von Distanz.«
Es tut ihnen gut, diese Liebe noch wie ein Echo in sich zu spüren.
»Außerdem tut es gut, euch davon zu erzählen.«
»… Gestreckt, im grünen Bett vom Licht betaut.
Ein Strauch deckt seine Füße. Wie ein Kind
Lächelnd, das krank ist, hält er seinen Schlummer.
Natur umhüll ihn warm! Es friert ihn noch …«
Isabelle eilt Mama in der richtigen Sekunde zu Hilfe. Sie und Rimbaud entreißen ihnen die Tränen. Dann Vicente, der seine Gitarre und García Lorca und Andalusien mitgebracht hat. La Petenera . Papas innere Stimme bebt mit den Schultern: Die Petenera von Vicente hat dich schon immer zu Tränen gerührt, schon vor dem Tod deines Sohns . Ich habe ihm nie von dem Lied erzählt, das auf meinem MP 3 zum Hit avanciert ist – er hat es gestern von Marie und Romain erfahren. Darum weint er vielleicht jetzt. Weil ich ihm nicht davon erzählt habe. Oder aber, weil wir beide Flamenco liebten. Papa überlegt hin und her, eine innere Beratschlagung, wie Philosophen es nennen würden. In Papa herrscht momentan eher das Chaos, ein Ringen des Selbst gegen sich selbst, ein Kampf. Er zuckt mit den Schultern. Seit zwei Stunden zuckt er häufig mit den Schultern. Die Freunde halten diesen Zaubertrick, Widersprüche abzuwenden, für einen nervösen Tick.
Papa nimmt seine Erzählung wieder auf.
»Donnerstag haben wir dann zusammen mittaggegessen, Lion und ich. Wir haben über die Aufführung gesprochen und uns über den Chirurgen lustig gemacht, dem Georg Friedrich Händel zum Opfer gefallen ist, kurz nachdem auch Johann Sebastian Bach von ihm auf dem OP-Tisch zur Strecke gebracht wurde. Händel und Bach mit gleichem Werdegang, keine schlechte Beute für einen Mediziner, nicht wahr? Anschließend kamen wir auf sein Studium zu sprechen. Lion sollte Staatsexamen machen, er musste langsam an die Abschlussarbeit denken, welches Thema und bei welchem Professor. Im nächsten Jahr wollte er gern an eine Universität im Ausland. Er hatte die Wahl zwischen einer Uni in Kanada oder in Island. Ich plädierte für Kanada – dort gab es zwangsläufig besser spezialisierte Unis als in Island. Lion zog es mehr nach Island. Ich habe ihm nicht widersprochen; es eilte ja nicht, er sollte sich erst mal erkundigen. Eigentlich war ich partout gegen Island, mir passte es nicht, aber ich habe meine Klappe gehalten. Zum Glück: Wenigstens muss ich mich jetzt nicht ständig daran erinnern, wie patriarchalisch, doof und schulmeisterlich ich bei unserem letzten gemeinsamen Mittagessen gewesen bin. Um Viertel nach zwei drängte ich zur Eile. Ich hatte einen Termin bei der DRAC , dem regionalen Zweig des Kultusministeriums. Lion musste in dieselbe Richtung, er wollte in einen Laden in der Rue du Chapitre. Weitere zweihundert Meter gemeinsam. An der Place du Calvaire haben wir uns getrennt. Gestern Abend, in Douarnenez, habe ich die nagelneue Tasche gefunden, die er sich nach unserem Abschied gekauft hat.«
Papa kickt mit dem Fuß ins Leere, wie um die Purpura fulminans zu verjagen, die ihm schon in Form von Worten übel im Mund aufstößt.
»Das war eine schlechte Entscheidung von mir, letzten Donnerstag. Anstatt zu dem Termin hätte ich mit ihm shoppen gehen sollen.«
Tränen, mal wieder.
Ihre Freunde ergreifen hin und wieder das Wort, in loser Reihenfolge, ohne sich vorher abzustimmen. Und dennoch wird es ein Konzert von Stimmen, gesungen wie gesprochen, einer vollendet den Satz des anderen, der nächste knüpft daran an, egal wer, egal wann, rund um das Gesangsduo Mama und Papa. Ab und zu entstehen lange Schweigeminuten, aber niemand hat Angst vor der Leere. Schweigen kann auch Musik sein, sagt Susumu. Kein Chef, kein Regisseur, kein ZM . Als Begleitung zur elterlichen Erzählung ein Chorus , Tutti ohne Masken und Auffangnetz, Antworten auf Zuruf, niemand weiß, wo es langgeht, aber es geht.
Sie bereiten mir eine wirklich schöne Trauerfeier.
France am Klavier. Sie spielt einen Choral von Bach: »Wachet auf, ruft uns die Stimme.« Absolute Präsenz,
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