Als ich meine Eltern verließ - Roman
gegangen bin?
Papa mag keine Kosenamen. Du wirst nie wissen, warum ausgerechnet »Schneckchen« – es sei denn, du gestehst Marie, dass du ihre SMS gelesen hast. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass du dich das demnächst schon traust.
Dann wäre da noch die SMS vom 26. September, ein Monat vor meinem Tod, die Papa auch heute Abend in meinem Handy gefunden hat: »Stern der Erlösung, mein guter Lion, news: Bin jetzt in Reims, werde mir mal spaßeshalber die Kathedrale näher anschauen.« Fieberhaft versucht Papa zu entschlüsseln. Eins ist sicher, diese Nachricht bezieht sich auf die Fahrt nach Amsterdam, die ich kurz vor meinem Tod mit Romain gemacht habe. Ich hatte gelogen. Ich hatte erzählt, wir würden nach Reims fahren. Mama und Papa wären ausgeflippt, wenn ich ihnen gesagt hätte, ich fahre ins Kifferparadies – für einen Einundzwanzigjährigen ein Muss, hast du ja wohl auch getan, Papa, vor vierzig Jahren, oder? Nach unserem Hollandtrip ist Romain tatsächlich über Reims gefahren. Ich bin in die Bretagne zurück, das Auto abgeben, an das ich so schwer gekommen war. Aus Reims hat mir Romain dann die Nachricht geschickt.
Rätselhaft bleibt er trotzdem, dieser »Stern der Erlösung«. Es wird dich Jahre kosten, bevor du Romain danach fragst. Momentan erbst du nichts als Rätsel.
Wenn man Papa nach seinem Sternzeichen fragte, erntete man höhnisches Gelächter. Er behauptete, ihm sei es schnurzegal, welches Sternzeichen er sei, und erst recht, welchen Aszendenten er habe. Er wisse nur eines, fügte er immer hinzu, den Namen seines Deszendenten, meinen: »Lion«, der Löwe. Jetzt, da ich tot bin, hat Papa nichts mehr, weder Aszendenten noch Deszendenten.
Am 29. Oktober 2003 um 12 Uhr 45 hatte ich einen Termin beim medizinischen Dienst der Universität. Blöderweise bin ich am 25. Oktober gestorben, vier Tage vorher. Seit wann hatte ich diesen Termin schon? Papa geht diese Frage nicht aus dem Kopf. Den Zettel hat er schon zweimal, vielleicht sogar dreimal in den Fingern gehalten, seitdem er eifrig versucht, meine Papiere in eine sinnvolle Ordnung zu bringen. »Medizinischer Dienst der Universität«: Auf dem kleinen Formular, das ich aufgehoben hatte, nahm er nichts anderes mehr wahr als: »Medizinischer Dienst der Universität, 29. Oktober, 12 Uhr 45, bei Madame …« Notiert ist »Termin bei Madame …«, gefolgt von einer gepunkteten Linie, ohne Namen.
Papa ist mitten im Chaos seiner ersten echten Trauerwoche, nachdem alle Feierlichkeiten stattgefunden haben und die Freunde wieder abgereist sind. Erst mit der Einsamkeit beginnt wirklich der Tod. Papa hat den ganzen Tag lang meine Sachen aufgeräumt, abwechselnd geweint und telefoniert, sich ausgiebig die Nase geputzt und dabei nicht einmal eine Stauballergie vorgeschoben. Er ringt sich dazu durch, meine alten Hefte aus der Oberstufe wegzuwerfen, sobald er den ganzen Schund einmal sorgfältig durchgelesen hat, für den Fall, dass ich in der Pause zwischen Englisch und Mathe eine Bemerkung, ein Bild oder irgendetwas Persönliches, das ihm etwas über mich erzählen könnte, an den Rand geschmiert habe. Er findet nichts, keinen Hinweis, nichts als das sinnlose Gekritzel eines Schülers, der seinem blöden Lehrer nicht richtig zuhört. Nach dieser stundenlangen Suchaktion – die übrigens auch ziemlich indiskret ist, Papa, ich bin tot, einverstanden, aber trotzdem –, voilà, entdeckt er auf einmal ganz unten auf dieser Vorladung, die ihm keine Ruhe gelassen hat, eine mit Filzstift geschriebene Notiz, ziemlich klein. Eine kaum sichtbare, aber entscheidende Information: Ich sollte nicht in die Sprechstunde eines x-beliebigen Doktors gehen, der an dem Tag zufällig für irgendeine jährliche Vorsorgeuntersuchung eines Studenten Zeit hatte, ich hatte eindeutig einen Termin in der Sprechstunde von »Madame Le Gouellec, Psychologin«. Genau so notiert, schwarz und unauffällig: »Madame Le Gouellec, Psychologin«. Eine handschriftliche Notiz, allerdings nicht von mir. Ich hatte also eigenständig um einen Termin bei einer Psychologin gebeten.
Das ändert alles.
In Papa steigt ein altes Gefühl von Beklemmung auf. Bereits im Augenblick meines Todes hatte es ihn kurzzeitig befallen. Er dachte, er habe es verdrängt. Aber da ist dieser beklemmende Schmerz wieder, wie ein Stich. Alles kommt wieder hoch. Erneut bricht die vertraute Gewissheit hervor, die seit Langem wie eine Wahnvorstellung in ihm schwelt: die Allmacht des Unbewussten. Das wahnwitzige
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