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Als ich meine Eltern verließ - Roman

Als ich meine Eltern verließ - Roman

Titel: Als ich meine Eltern verließ - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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sicher.«
    Mama schwärmt in höchsten Tönen.
    »Er war begabt. Wir mochten klassische Musik, er Pop und Rock. Wir waren keine guten Eltern. Was Musik angeht, hätte er so viel machen können, aber wir haben ihn nie ermuntert zu üben.«
    Schuldgefühle kommen auf – was sie nicht alles hätten tun können. Sie haben nicht versucht, aus mir einen Musiker zu machen. Schon nach drei Wochen habe ich die Klavierstunden sausen lassen. Unter dem Vorwand, einem kleinen Jungen von sieben Jahren nicht das Gleiche, was seine Eltern tun, aufzwingen zu wollen, haben sie es sein gelassen. Erster Fehler. Fünf Jahre später habe ich mit Saxofon begonnen, ich wollte Johann nachahmen. Schon bald habe ich alles wieder hingeschmissen. Entmutigt gaben sie es dran.
    Der Spinozist in Papa reißt sich zusammen. Das Glück ist unvergänglich, das ist es, worum es heute geht, und nichts anderes! Er erhebt sich und nimmt den Faden der Erzählung auf.
    »Jedenfalls eine herrliche Überraschung, Lion hatte zugesagt, mit uns in die Oper zu gehen. Das wäre das erste Mal, dass wir uns gemeinsam eine Oper anschauten. Wir haben sein Kommen als ein Geschenk betrachtet.«
    Papa stützt sich an einem Fitzelchen Glück ab.
    Schritt für Schritt entfernt er sich nun von meinem Sarg. Er redet und geht gleichzeitig durch die um ihn versammelte Schar von Freunden. Er streichelt eine Wange, wird in den Arm genommen, ergreift eine Hand, »Du auch! Du auch!«, Kopf an Kopf, »Danke, dass du da bist«, eine Berührung nach der anderen, und während er von einem zum anderen geht, erzählt er immer weiter. Grenzenlose Zuneigung aus allen Richtungen, die er wahrscheinlich noch nie so deutlich gespürt hat. Papa fragt sich: Warum muss es erst zu solch traurigen Momenten kommen? Er läuft zum Sarg zurück. Und macht sofort wieder kehrt.
    Zurück zur Oper in Rennes.
    »Zur Begrüßung haben wir uns lange fest im Arm gehalten, an dem Mittwochabend auf der Place de la Mairie, vor dem Theater, wo wir verabredet waren.«
    Papa geht wieder zu Mama. Sie hat vorhin erzählt, wie ich sie am Montagabend lange umarmt habe.
    »Ich auch, ich habe mich auch gefreut, dass wir uns so innig in die Arme genommen haben!«
    Auf einmal kommt ihm eine idiotische Frage in den Sinn: Wer hat ihren Sohn wohl mehr geliebt, Papa oder Mama? Er schaltet sofort weg. Stimmt eigentlich, wen hab ich lieber gehabt? Nein, ich nehme den Joker!
    Ami spielt Geige. Obwohl seine Finger kaputt sind und er krank ist, hat er sein Instrument mitgebracht und spielt die Partita von Bach, notgedrungen in langsamem Tempo. Dann singt seine Geige das Kaddisch von Ravel, ohne Text. Ohne die Worte: »Du, der du die Verstorbenen auferstehen lassen musst …« Worte, die Papa nicht ertragen würde hier neben meinem Sarg. Die Auferstehung, das Paradies, das ewige Leben, alles Worte, die er aus seinem persönlichen Wörterbuch gestrichen hat. Ami und Ravel sprechen mein Abschiedsgebet. Papa hat nichts gegen das Gebet, allerdings ohne Abschied und ohne Gott. Er weint trotzdem. Von Mama ganz zu schweigen.
    Geraume Zeit später. Papas Erzählung geht weiter.
    »Ich hatte Daniel B. angerufen, der in letzter Minute noch eine Karte für Lion ergattern konnte. Er war allerdings untröstlich, da er keine Plätze mehr nebeneinander bekommen hatte. Ich versicherte ihm, dass es nicht schlimm sei – ich glaubte noch immer, dass es nicht wichtig ist, nebeneinanderzusitzen. Vor der Aufführung Abendessen mit dem Theaterdirektor. Lion wird sich in dieser geschwätzigen Runde gelangweilt haben und du dich auch, Martine, verzeih mir.«
    Er dreht sich zu meinem Sarg.
    »Verzeih mir, Lion.«
    Er entschuldigt sich nicht nur für dieses eine Mal, sondern auch für zig andere gemeinsame Abendessen, die sowohl Zeichen seiner väterlichen Vernachlässigung waren als auch den kläglichen Versuch eines Kompromisses aus Berufs- und Familienleben darstellten.
    »Auf einmal wurde die Zeit knapp, reichte nicht einmal mehr für einen Kaffee, wir rannten auf unsere Plätze, wir in der Direktorenloge, Lion am Orchestergraben. Vom Balkon aus schauten wir häufig zu unserem Sohn dort unten, ganz links, in der ersten Reihe zwei Schritte von der Bühne entfernt. Die Sänger waren genauso jung und hübsch wie er.«
    Offensichtlich hätten mich Mama und Papa gern auf der Bühne gesehen, als Sänger unter Sängern.
    »Martine und ich waren hin und weg. Die Aufführung war außerordentlich gut, die musikalische Leitung auch. In der Pause sagte uns Lion,

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