Als ich meine Eltern verließ - Roman
Richtungen. Er ist gefangen in einer Sackgasse.
Geh los, Papa! Du willst alles? Dann nimm alles! Wenn Pierre nicht hereinkommen will, brauchst du nur zu beschließen, dass die Feier bis in den Garten geht. Du willst auch Musik? Öffne die Tür zum Krematorium. Papa kehrt zu Pierre zurück, gefolgt von der Musik und Martines inniger Liebe. Pierre, Papa und Mama, die Freunde und die Musik, alle sind bei mir, Papa fühlt sich nicht mehr gevierteilt.
Zum ersten Mal akzeptiert Papa Pierre so, wie er ist. Papa begreift, was er als Vater, der sich wegen Drogen und schlechten Noten Sorgen macht, nicht akzeptiert hat: Pierre war ein Freund von Lion . Gestern Abend hat Pierre ihnen Filme und Fotos nach Douarnenez gebracht: ein Haufen Erinnerungen an Zechgelage unserer unzertrennlichen Clique, der Mama und Papa zutiefst misstrauten: Drogen, Alkohol, Hass auf Lehrer, Computerspiele bis in die frühen Morgenstunden, einfach alles, alles, was Eltern sich für ihren Sohn und Gymnasialschüler nicht wünschen. Papa hat auf den Fotos nach seinem Bild von mir gesucht. Gefunden hat er einen völlig veränderten Menschen, fröhlich, extrovertiert, offenherzig, wie ich ihnen gegenüber schon seit einer Ewigkeit nicht mehr war. Verwunderung. Schuldgefühle. Unverständnis. Auch Verärgerung. Über dich oder über mich? Doch dann, letzten Endes hat er keine große Wahl, er akzeptiert, schließlich ist Moral hier nicht mehr angebracht.
Papa ist mir ein Stück nähergekommen.
Als er aus dem Garten zurückkommt, wo Pierre trotz Regens verweilen will, liest Jacques gerade ein Gedicht vor. Fernando Pessoa.
» Ich hob die rechte Hand und grüßte die Sonne,
aber ich grüßte sie nicht, um Abschied zu nehmen,
sondern zum Zeichen, dass es mir lieb war,
sie vorher zu sehen,
nichts weiter.«
Vor der Leichenhalle des Krankenhauses, in dem ich vor kaum vier Tagen gestorben war, hat sich Papa gezwungen, die Sonne zu begrüßen mit: »Es lebe das Leben, es lebe das Leben trotzdem!« Lächerlich, Papa findet sich nur noch lächerlich, jetzt, da der Ofen zu ist und alles verbrennt. Verdammt, Pessoa, die Sonne grüßen nützt jetzt auch nichts mehr. Der bloße Gedanke an den kleinsten Lichtschimmer ist schier unmöglich.
Papa setzt sich in die letzte Reihe. Jean-Claude spielt ein weiteres Impromptu von Schubert. Ges-Dur. Papa sinniert über die Einäscherung und ihre Folgen. Jean-Claude hatte ihm bei seiner Ankunft gesagt, dass, sollte Gott am Abend aller Welten Ende die großartige, versprochene Auferstehung des Fleisches gelingen, dass es da egal sei, ob die Leichname in der Erde oder im Feuer bestattet wurden: Die Wiederherstellung von Milliarden über Milliarden von Entschlafenen wird in jedem Fall eine riesige Glanzleistung. Bei dem Gedanken an die irrsinnige Arbeit, die Gott erwartet, musste Papa lachen. Knochen oder Asche, ist das im Endeffekt egal? Eines seiner alten, vom Katholizismus übernommenen Vorurteile bricht zusammen. Urnen und Gräber haben das gleiche Schicksal.
Aber mit der Feuerbestattung entsteht Hitze im Ofen, brüllende Hitze. Papa hasst die Hitze. Wenn wir im Sommer irgendwo unterwegs waren, schlich er an Hauswänden entlang, immer schön im Schatten. Mir war unbegreiflich, dass er das, was Mama anbetete, unerträglich fand. Wenn er also nie eine Feuerbestattung wollte, dann auch, um nicht gebraten zu werden – weder in echt noch in der Hölle. Feuerbestattung : Wie ein Blitz hat ihn das Wort getroffen, als Mama es beim Bestatter vorsichtig aussprach. Am Ende hatte Papa aber nicht widersprochen.
Er widerspricht noch immer nicht. Er versucht lediglich, sich an den Gedanken der Asche zu gewöhnen. Was gar nicht einfach ist.
Protokoll des Krematoriums: »Nach abgeschlossener Kremation, 16 Uhr 58, wurde die Asche in eine Urne gefüllt und den Angehörigen überreicht.«
Nach der Trauerfeier in Carhaix wird meine Asche unter strömendem Regen in Ploaré beerdigt. Ich werde nicht im wörtlichen Sinne beerdigt: Das ist absolut nicht das richtige Wort, aber wenn man das Aschegefäß in eine Urnengruft stellt, die mit einer Zementplatte von drei Quadratmetern Größe ordnungsgemäß abgedeckt wird, wird es den Anschein haben, dass ich wie alle beerdigt bin. Allerdings ohne Kreuz, das wollten Mama und Papa nicht. Mein Grab ist eines der wenigen Grabstätten des Friedhofs, auf dem kein Christus am Kreuz steht, den Kopf nach rechts geneigt. – Frage an alle Friedhofsgänger: Warum haben so wenige Christusfiguren den Kopf nach
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