Als ich meine Eltern verließ - Roman
dass es ihm auch sehr gefiel! Zu unserem großen Erstaunen: Es war Jahre her, dass er uns freiheraus gesagt hat, was ihm gefällt. Und auch noch eine Oper: Sie war mehr als nur ein Beruf für uns, eine Leidenschaft mit allem, was sie an Gefahren für das Familienleben mit sich bringt! Lion mag etwas, Lion mag das, was wir mögen, und er sagt es, er sagt es uns! Das sind riesige Geschenke!«
Papa schreit aus Leibeskräften durch das Krematorium: » GESCHENKE ! GESCHENKE ! GESCHENKE !«
Der traurige Schwärmer mit Freudentränen in den Augen wendet sich schließlich wieder meinem Sarg zu.
»Lion, du hast uns letzte Woche lauter Geschenke gemacht! GESCHENKE !«
Zwei Sargträger öffnen einen Spaltbreit die Tür, um zu sehen, was es mit diesem Geschrei auf sich hat. Aber es hat sich alles wieder normalisiert, die Eltern weinen, die Versammelten auch. Die Sargträger verschwinden.
Mama und Papa halten ihre Hände einander zugewandt, ganz dicht, nur wenige Zentimeter auseinander, auf Höhe ihrer Gesichter. Sie sprechen wie in einen Spiegel. Papa, der seine Hand kaum von der Stelle rührt, hatte ihr diese Einzelheiten noch nicht erzählt.
»Du musstest am nächsten Morgen ziemlich früh ins Theater, um zu arbeiten, deshalb bist du in der Pause gegangen. Du hast den Sohn und den Vater gemeinsam zurückgelassen. Ich habe Lion vorgeschlagen, hinauf in die Loge zu kommen, auf deinen Platz. Wir verfolgen die Oper also nebeneinander in der Loge, glücklich, uns so nahe zu sein. Anschließend gehen wir in einer Kneipe im Zentrum von Rennes etwas trinken. Aber nach Händel eine volle Dröhnung schlechten Rap, das geht einfach nicht. Unmöglich, sich zu unterhalten, ohne zu schreien. Vom Qualm muss ich außerdem husten. Wir verlassen den Laden, leider, und gehen nach Hause, er in seine Bude, ich ins Hotel, wo Martine schon schläft. Ich hasse dieses Lokal dafür, dass man es darin nicht aushalten konnte, wir hätten noch stundenlang geplaudert in dieser Nacht. Vielleicht wäre irgendetwas anders gelaufen.«
Es reicht, da sind sie wieder, die Vorwürfe, diese teuflische Reuemaschine, die das aufleiert, was er getan und was er nicht getan hat, was anders wäre, wenn … Da kommt mal eben ein Teufel vorbei und versaut die ganze Beerdigung. Scheiße noch mal. Papa verstrickt sich in Gewissensbissen. Mama fasst seine Hand und schüttelt den bösen Pechschleier ab. Mithilfe ihrer Liebkosung kriegt er wieder die Kurve. Die Finger greifen ineinander, er ist wieder bei mir.
»Lion und ich sind schweigend nebeneinanderher gelaufen. Es war Mitternacht, ziemlich kalt, und aus unserer Unterhaltung war der Schwung raus. Neben Martines Hotel gehen wir auseinander, an der Ecke Passage du Théâtre …«
»Nein, nicht du Théâtre, de la … de la Grippe! Diese kleine Fußgängergasse, die geradewegs aufs Nationaltheater zuläuft, die heißt Rue de la Grippe …«
Papa sieht Mama fassungslos an. Wie? Rue de la Grippe? Sollte wirklich jedes kleinste Detail eine Bedeutung haben? Er ist fix und fertig. Am Montag, zwei Tage vor der Oper, war ich in Rennes beim Arzt gewesen, der einen leichten grippalen Infekt diagnostiziert und mir ein Rezept ausgestellt hatte. Mittwochabend bei der Aufführung ging es mir schon viel besser. Nach der Vorstellung haben wir uns an der Rue de la Grippe verabschiedet, und drei Tage später, am Samstag, sterbe ich an einer Meningitis. Diese Vetternwirtschaft zwischen der Zeit, dem Virus und der Sprache macht sie kirre. Sie finden keine Worte mehr. Aber nein, in wechselseitiger Eingebung beschließen sie, dass der schlechte Film, der da drei Sekunden lang in ihren Köpfen ablief, unter ihnen bleibt. Sie werden keine Anspielungen machen, weder auf die Grenzen der Medizin noch auf die Zufälligkeit von Straßennamen. Sie werden nicht sagen, dass das Schicksal überall lauert. Papa erzählt weiter. Den Grund für ihr zögerliches Verhalten schieben die Freunde auf ihre derzeitige Gefühlslage.
»Lion macht sich also auf in die besagte Rue de la Grippe; bevor er verschwunden ist, rufe ich ihm noch einmal hinterher. Mein Termin an dem Donnerstag ist erst um 14 Uhr 30, ob er Lust auf ein gemeinsames Mittagessen hat? Ja? Super, bis morgen Mittag im Picca, vor dem Rathaus. Wir verabschieden uns und klopfen uns auf die Schultern, so richtig männlich. Das haben wir häufig so gemacht, Lion und ich.«
Mama: »In der Vergangenheit war es häufig eher schwierig gewesen. Bis vor nicht allzu langer Zeit war er ja noch ein
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