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Als ich meine Eltern verließ - Roman

Als ich meine Eltern verließ - Roman

Titel: Als ich meine Eltern verließ - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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Sie haben die Bedeutung, die wir ihnen geben, Punkt, aus!«
    Was für eine Wohltat für Papa, mal so richtig rumzubrüllen.
    Ein Baby, dein Baby, das in einer Wiege liegt. Du nimmst es auf den Arm. Es ist leicht und winzig klein! Du hältst es vor dein Gesicht, ich schaue dich an, lächle und sage undeutlich babbelnd »Pa-pa«. Papa, er hat Papa zu mir gesagt! In deinem Traum weinst du vor Freude. Lion ist knapp drei Monate alt, und er hat Papa zu mir gesagt, zu mir! Seine ersten Worte gelten mir, Pa-pa! Papa ist überwältigt, er wünschte, ich würde diese beiden magischen Silben noch einmal sagen. Aber nein, nicht im Traum, nicht in Wirklichkeit. Nein.
    Wie ein leises Echo auf die »Dora dorée« von Paol brabbeln Mama und Papa nun ihre allerdings jämmerlichen Alliterationen durch die Gegend: »Lion, lions, allions, aillons, au lit, nous allions, allions-nous …«
    Es entsteht keine Melodie.
    Papa macht sich unentwegt Vorwürfe wegen der letzten Tage. Das Bild, das er jetzt am häufigsten vor sich hat, ist nicht mehr der Supermarkt, sondern als er sich vor der Oper in Rennes von mir verabschiedet hat. Es war ziemlich kalt, und er hätte sich über eine Einladung zu mir nach Hause sehr gefreut. Tut mir leid, Papa, aber bei mir war es zu unordentlich, und außerdem lag noch irgendwo Shit rum, wir hätten uns nur unnötig in die Haare gekriegt. Papa stellt sich vor, wie wir noch die ganze Nacht geredet hätten, besser denn je. Außerdem macht er sich Vorwürfe wegen Donnerstagmittag. Er ist überzeugt davon, dass er mich niemals wegen dieses Termins hätte verlassen sollen. Vorwürfe, die immer wieder hochkommen wie übler Atem.
    »Wenn man bei uns in Japan«, schreibt ihnen Susumu, »ein Familienmitglied verliert, teilt man den Geschäftsfreunden mit, dass man aufgrund eines Todesfalls die Neujahrswünsche nicht entgegennehmen wird.«
    Das letzte Wort, das Madame Lagadec zu Gott auf der Bühne spricht, ist: »Arschloch!«
    So beschimpfen sie Ihn häufig.
    »Nicht mal gegen einen Cadillac oder einen Porsche oder womöglich einen Rolls-Royce, ich würde meinen Sohn doch nicht gegen einen Rolls-Royce eintauschen!«
    Der betrunkene Araber an der Haltestelle lässt seinen Gefühlen freien Lauf: »Ich würde meinen Sohn gegen nichts auf der Welt eintauschen, verstehst du?«
    »Ja, sicher, finde ich auch, würde ich auch nicht, für alles Gold der Erde hätte ich ihn nicht hergegeben«, erwidert Papa.
    Zwei liebestrunkene Väter warten auf den Bus.
    Hin und wieder setzen die Grübeleien aus. Dann leuchten Erinnerungen auf, wie an das Hôtel Président , wo wir uns an zwei Abenden so herzlich umarmt haben, zuerst Mama und dann er am übernächsten Tag. Jeder Augenblick des Glücks währt ewig. Spinoza, Wladimir Jankelewitsch, Deleuze, Séverine Auffret, alle kämpfen in derselben Schlacht.
    Aber sofort, wie die Rückseite einer Medaille, schleichen sich Zweifel unter die glücklichen Erinnerungen: Bestimmt hatte sich der Schatten des Todes bereits auf mich gelegt und uns ungefragt zu dieser besonders innigen Umarmung gezwungen. Trauer währt ewig.
    »Es lebe das Leben, trotzdem!« Als er in der Leichenhalle wie ein Verrückter herumgeschrien hat, waren ihm die Worte von weither gekommen, von vor vierzig Jahren, als er als Anarcho und Antifrankist politisch aktiv war. Wie war das noch damals? »Muerte a la muerte« ? Er weiß es nicht mehr genau. Sechs Monate vor meinem Tod hat Papa in einem Artikel geschrieben: »Es lebe das Leben«, sein Refrain, der sich wie von selbst wiederholt. Das verpflichtet.
    Der Friedhof. Ich laufe die Rue Laennec in Richtung Zentrum. Ich treffe Papa an dieser eigenartigen Kreuzung Rue Laennec und Route de Brest. Eine Kreuzung in Form eines Gänsefußes mit nur zwei Zehen, wie von einer behinderten Gans. Wir unterhalten uns. Mir gegenüber, in Papas Rücken, ist diese Apotheke, deren Leuchtschrift, die in roten Punkten Tag, Uhrzeit und vor allem die Temperatur anzeigt, beim besten Willen nicht zu übersehen ist. Das grüne Kreuz blinkt auch, aber vor allem zieht das rote Leuchtband das Auge auf sich. Es ist der 15. Januar 2004, 11 Uhr 12, dreizehn Grad.
    »Wirklich nicht schlecht, was ihr da auf dem Friedhof für mich gemacht habt.«
    Als Papa aufwacht, wundert er sich nicht über meine Worte: In den Augen seiner fast täglichen Besuche ist der Friedhof von Ploaré zu einem wundervollen Ort geworden.
    Papa erzählt Mama von unserer nächtlichen Begegnung.
    Sie wundert sich umso mehr: »Aber wir

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