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Als ich meine Eltern verließ - Roman

Als ich meine Eltern verließ - Roman

Titel: Als ich meine Eltern verließ - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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meinen Eltern diverse Schreiben sowie das Geld, das im Todesfall rechtmäßig auszuzahlen ist. »Dieses Jahr«, sagt Papa, »werden wir nicht die ganze Zeit im Minus sein.« Das Sterbegeld wird selbst für die Ausstattung des Grabes reichen.
    Mama zappt hin und her. Nichts. Sie würde gern einen Tierfilm sehen. Zurzeit könnte sie nichts besser gebrauchen als einen gut gemachten Kurzfilm über die Fortpflanzung von Pandas oder über Kamele in der Wüste oder Pinguine vom Packeis. Zu Tieren und Landschaften könnte sie jederzeit flüchten. Irgendein Kanal führt sie heute in die Savanne. Papa ruft bestürzt: »Bloß kein Film über Raubtiere!«, und löst einen Tornado im Schlafzimmer aus, Tränen spritzen aus seinen Augen, Mama schluchzt. Der kleine Löwe Lion is back . Der bloße Gedanke an herumtollende Löwenbabys, die an Mamas Brust saugen und einschlafen, macht sie wahnsinnig. Der Vorname ihres Sohns und die gesamte Löwenfamilie bedeuten reine Panik.
    Kaum sitzen sie Hand in Hand in der Bordkabine, steigen ihnen Tränen in die Augen. Auch als das Flugzeug am Himmel ist, laufen unentwegt Tränen über ihre Gesichter. Der Steward sorgt sich. Ob sie wirklich solche Angst vor dem Fliegen hätten?
    Papa ergreift den Arm des Stewards und stammelt: »Nein, schon gut, schon gut, nur ein Trauerfall.«
    Verlegen zieht sich der Steward zurück. Sie lassen ihren Tränen freien Lauf, den halben Flug lang. Als der Essenstrolley von Air France kommt, sagt Papa: »Hunger haben wir aber trotzdem.«
    Wieso versiegen dadurch die Tränen?
    Unablässig fallen stapelweise Allgemeinplätze in ihren Briefkasten. »Beileid, Schmerz, Trübsal, schreckliches Leid«, auch jeder Gesprächspartner sucht nach den richtigen Worten – vergebens. Ein Linguistikstudent könnte eine Abschlussarbeit darüber schreiben: Achtzig Prozent der Mitteilungen, die sie erhalten, sagen mit der gleichen Betroffenheit, dass es unmöglich sei, die richtigen Worte zu finden für … Wofür eigentlich?
    Die Grabsteinhändler bieten ihnen die Wahl zwischen der »Schlichtheit und Wärme eines Grabsteins aus dunklem Granit« oder der »Harmonie der ins Unendliche aufstrebenden, wellenförmigen Stele« – aus himalayagranit, wohlgemerkt mit kleinem h geschrieben. Vorgeschlagen werden ferner »antik wirkende, klassizistische Gräber«. Oder auch »künstlerische, figürliche, abstrakte, poetische oder symbolische Grabstätten«. Man beteuert das »Gleichgewicht geschwungener Stelen«, »die richtigen, abgerundeten Proportionen«, »die Würde und Schmucklosigkeit« für ein »Juwel der Erinnerung«. Sie können sich entscheiden für eine »schlichte, klassische Inschrift« – dreitausend Euro –, eine »erhabene und schmucklose« – dreitausendfünfhundert Euro – oder auch die »seltene und feine«, die jedoch erheblich kostspieliger ist, da »traditionell und ausdrucksstark«.
    Am liebsten hätten sie einen guten, alten Grabstein aus zweiter Hand.
    Belustigt fällt ihre Aufmerksamkeit auf eine Grabplatte aus Altuglas, auf der eine Karte vom Département Cantal und Salers-Rinder abgebildet sind. Ich bin jedoch weder in der Auvergne geboren noch gestorben; ein Grabartikel mit der Bretonne Pie Noir, der typisch bretonischen Kuh, ist leider nicht vorhanden, schade.
    Gebeugte Haltung, von Tränen durchfurchtes Gesicht, einsam und niedergeschlagen, körperlich am Ende, nie wieder!, Stille, gepeitschte Heidelandschaft, kalter Wind, gebrochener Greis: Auch du, Papa, bist tagtäglich ein wandelndes Klischee, wenn du auf den Friedhof von Ploaré gehst.
    »Dors mon adorée que le soleil dora, dors.« * Dieser Vers von Paol ist zu einem ihrer viel gesungenen Refrains geworden. Zusammen mit Pierre-Alain ist Paol der Autor eines der fünf oder sechs Stücke über die Trauer, die Papa bislang inszeniert hat, und dies hier sogar mit Mama: Dieu et Madame Lagadec . Das war sechs Monate vor meinem Tod, wann sonst, danach wären sie nicht dazu in der Lage gewesen. In diesem ersten Trauerwinter erzählt ihnen Paol etwas Verblüffendes: Ich bin am gleichen Tag im Oktober gestorben wie seine Tochter Dora, zwar ein paar Jahre nach ihr, aber auch an einem 25. Oktober. Sie war zwölf Jahre alt, ich einundzwanzig. Mama wird schwindelig. Von einem 25.10. zum nächsten, von einer 12 zur umgedrehten 21, sie hat das Gefühl, in dieser Zahlenmystik zu ertrinken. Hilft es, nach einer Bedeutung zu suchen? Papa will nicht. »Zahlen haben keine Bedeutung, all diese Sachen haben keine Bedeutung.

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