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Als ich meine Eltern verließ - Roman

Als ich meine Eltern verließ - Roman

Titel: Als ich meine Eltern verließ - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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haben mit dem Grab doch noch gar nichts angestellt. Nicht einmal Gedanken haben wir uns gemacht. Es liegt völlig brach.«
    Habe ich mich in jener Nacht im Traum über dich lustig gemacht?
    Die Eltern beschließen, den provisorischen Zustand meines Grabs zu beheben. Sie wählen einen »scharrierten Grabstein aus der Region«. Aus Granit also.
    Papa murrt zähneknirschend: »Der wird wenigstens so lange der Witterung standhalten, wie wir die Grabmiete zahlen.«
    In regelmäßigen Abständen sieht man auf dem Friedhof mit Tesafilm auf den Marmor geklebte Zettel: »Familiengrab abgelaufen.« Nach ihrem Tod, in zehn, zwanzig, höchstens dreißig Jahren, wird niemand mehr da sein, der das Grab bezahlt. Man wird die Reste aus dem Familiengrab exhumieren und die Asche in das Sammelgrab werfen – ihre Asche wird sich mit meiner und der anderer zu Staubkörnern für die Ewigkeit vermischen.
    Niemand, der sich um unser Grab kümmert? Papa kann es nur schwer ertragen, keinen Nachkommen zu haben.
    Einige Monate später lassen Mama und Papa meinen Namen und die Lebensdaten in eine Platte gravieren, die das gleiche gebrochene Weiß hat wie mein Grab. Ein behauener Steinquader von siebzig Zentimetern Länge, vierzig Zentimetern Breite auf zehn Zentimeter Dicke. Sie haben extra dieses Format gewählt, um die Platte leicht auswechseln zu können. Kleine Kampfansage an die unverrückbare Ewigkeit. Bloß keine endgültige Grabstätte. Die Blumen, die dort wachsen, dienen dem gleichen Zweck, vergängliches Sein gegen ewigen Stein.
    Um meine Grabplatte, quasi wie zu Besuch auf dem Friedhof, behauen zu können, musste der Steinmetz einen Granitblock in drei ähnlich große Stücke zerteilen. Papas fragwürdiger, makabrer Kommentar – sicherlich nur ein Ausdruck seiner Wut über meinen Tod – lautete:
    »Drei Grabplatten! Nach der für unseren Sohn sind zwei Platten übrig, eine für Mama, eine für mich!«
    Mein Vorname, Mamas Familienname, Papas Familienname, mein Geburtsdatum, mein Todestag. Man kann die Granitplatte verschieben, je nach Vorliebe des Besuchers ändert sie ihre Position auf meinem Grab, nach oben, nach unten, schräg … Die beiden anderen Granitplatten stehen zu Hause, einsatzbereit.
    Beim Unterzeichnen des Auftrags fragt Papa den Steinmetz, wobei er seine Geschmacklosigkeit erneut unter Beweis stellt: »Wollen Sie nicht auch gleich unsere Grabplatten beschriften und uns einen Mengenrabatt einräumen?«
    Man könne doch schon mal – für ihn auf die eine, für Mama auf die andere Platte – Vornamen, Namen, Geburtsdaten und die Anfänge der Todesjahre eingravieren: 1942– 20.. und 1947–20.. 20 plus zwei kleine Punkte, es fehlten lediglich diese beiden kleinen Unbekannten.
    »Wir wissen noch nicht, wann wir sterben, aber das Unbekannte ist nie mehr als zwei Ziffern entfernt.«
    Der Steinmetz wollte sich lieber nicht auf das dubiose Spiel einlassen. Die restlichen Platten sind jungfräulich geblieben, aus Respekt vor dem Aberglauben. Als ob nichts wäre, stehen sie auf der Terrasse in einer Ecke und warten auf den Tod von Mama und Papa, um zu mir aufs Grab zu kommen.
    Papa blättert im Archiv der Pariser Oper in einer Akte: Manuskripte, Auszüge aus Zeitschriften, Zusammenfassungen von Aufführungen und vieles mehr. Und da ist auch das Tagebuch von Freud, ein wertvolles Dokument. Papa sucht nach allem, was mit dem Tod von Freuds Tochter zu tun hat. Er stößt auf interessante Seiten über eine Oper von Berlioz. Er hört, wie Dido dem Leben Adieu sagt: »Mein Lebensweg ist vollendet.« In seinem Traum stellt Papa fest, dass er in Wirklichkeit in Briefen von Victor Hugo zu Zeiten von Léopoldines Tod blättert. Als er aufwacht, hat er auf einmal eine Art Ohrwurm aus der Schulzeit im Kopf.
    »Ich klage nicht mehr an, ich verfluche nicht mehr, aber lasst mir meine Tränen.«
    Trotz der brennenden Hitze am heutigen Tag macht sich eine Frau in aller Sorgfalt an meinem Nachbargrab zu schaffen. Geflissentlich fährt sie mit ihrem Putzlappen in jeden Winkel, lässt es an Eifer und gutem Willen wahrlich nicht mangeln. Nachdem ihre Hand um den Sockel des Kreuzes herumgewischt hat, arbeitet sie sich zu den Füßen der Christusfigur, dem Oberkörper, Gesicht und den Armen empor. Schließlich wischt sie mit dem Lappen noch einmal über den Bauch. An dieser Stelle gibt sich die Frau besondere Mühe. Und auf einmal stellt Papa fest: Das ist nicht wahr! Sie poliert das Gemächt von Jesus blank! Und wie, eine Ewigkeit bringt sie

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