Als ich meine Eltern verließ - Roman
damit zu. Bis sie geht. Keine Minute hat sie gebetet oder geweint. Einfach nur das Grab gesäubert und den Christus poliert.
So viel zum alltäglichen Putzwahn auf Friedhöfen.
Dies ist die Geschichte von einem Arzt. Müde und erschöpft kommt der Onkel Doktor eines Tages nach Hause. Ihm tut alles weh, er hat Fieber, und ihm ist übel. Er legt sich ins Bett. Als seine Frau nach Hause kommt, fühlt er sich richtig krank. Er muss sich eine schwere Grippe oder Ähnliches eingefangen haben. Am nächsten Morgen wacht er mit so starkem Fieber, auf, dass er sich nicht mal mehr hinsetzen kann. Auf seinen Unterarmen entdeckt er violette Flecken. Er knöpft seinen Pyjama auf: Sein Oberkörper ist voll davon. Selbst Medizinstudenten von der Uni kennen die Diagnose: Purpura fulminans . Rasch lässt er sich ins Krankenhaus bringen. Seine Kollegen bestätigen seine Vermutung und wollen alles daransetzen, ihn noch zu retten. Doch der Arzt weiß, dass es zu spät ist, aus und vorbei. Er weigert sich, dass man ihn betäubt und unnötig an ihm herumschnibbelt. Lieber möchte er die letzten ihm verbleibenden Stunden mit seiner Frau verbringen.
Mama und Papa hören sich die Geschichte an. Einen Moment lang erleichtert sie ihnen das Gewissen.
Allein jene, die ein Kind verloren haben, wissen, was es heißt, die Qualen des Kreuzweges durchzumachen wie einst in der Kirche.
Die Platzanweiserin im Kino ist eine junge Studentin. Gerade mal dreiundzwanzig Jahre alt. Sie hat die Aufgabe, nach der letzten Vorstellung das Kino abzuschließen. Alle Kinogäste sind gegangen, außer ihm, dessen Tränen ihn wie Tesafilm an den Sitz festkleben, während noch die emotionsgeladene Musik der letzten Meter Filmrolle läuft. »Der Film ist aus«, sagt sie leise. Er dreht sich zu ihr. »Oh! Wie schön Sie sind!« Und dann: »Ich habe Durst! Großen Durst! Wären Sie so nett und ließen mich aus Ihrem Mund trinken?« Seine nächtliche Besucherin gibt ihm einen langen Kuss.
Heute Morgen ist Mama nach Rennes zu den Proben gefahren. Papa hat die kleine Schachtel mit meiner Asche geöffnet, die in ihrem Schlafzimmer steht. Ein zylinderförmiges Gefäß aus antikem, hellem Holz. Da die Asche in alle Ritzen eingedrungen ist, lässt sich der Deckel schlecht drehen. Es geht nur mit viel Kraft. Kaum ist er offen, fliegt überall Asche umher, Sand, der noch feiner ist als meine Haare, Staub, beinahe Rauch, leicht wie Luft. Im Zimmer verflüchtigen sich winzige Fetzen von mir. Papa gerät in Panik. Er taucht seine Nase in die kleine Wolke im Gegenlicht und atmet tief ein, um mich in seinen Lungen zu spüren.
Dann muss er husten.
Papa gehen meine Cousinen und ihre Augenbrauen nicht aus dem Sinn. Sie sind zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahren alt. Alle vier wunderschön. Gern würde er ihre Gesichter streicheln, um an ihnen die Züge meiner Stirn und Augenbrauen zu erfühlen: Denn sie sind sich auf sonderbare Weise ähnlich. Einmal hat Papa es gewagt, von Aurore Fotos zu machen, Großaufnahmen – und sie ließ ihn gewähren. Bei Jennifer und Diane hat er sich nicht getraut. Jetzt befinden sich Aurores Augenbrauen im Album Lion, Oktober 2003 und als Hintergrundbild auf Papas Handy. Die gleichen Augenbrauen zieren auch Alexandras schönes Gesicht. Wirklich beeindruckend. In Tokio, wo er sie kennengelernt hat, bat er sie nach einiger Überwindung, so zu posieren, wie ich es einmal für ihn getan habe: mit geschlossenen Augen – einfach nur mit geschlossenen Augen. Obwohl sie es wie ich schrecklich findet, fotografiert zu werden, hat sie ihn das Foto schießen lassen. Ein Geschenk. Jedes Mal ist er hin und weg, wenn er die Bilder sieht.
Der alte Papa verguckt sich in Augenbrauen. Und die jungen Mädchen?
»Für deine Mama ist meine Liebe grenzenlos, wenn es das ist, was du wissen willst, grenzenlos.«
Papa fährt meinen Citroën AX spazieren, mein erstes Auto, das ich mir letztes Jahr zum Schnäppchenpreis gekauft habe. Er fährt mit mir durch die Gegend. Und wie viele Autos hat Papa bisher gehabt? Beim Herumfahren rechnet er nach, als würde er mir eine Geschichte erzählen. Der gebrauchte Peugeot 404, Rodolphes Eltern abgekauft, als er in Laborde war. Mit zweihunderttausend auf dem Tacho ist er anstandslos gelaufen. Dann ein anderer alter Peugeot. Dann ein Ford, neu erstanden mithilfe einer Abfindung, darauf folgte wieder ein Ford und noch einer und noch einer. Seit dreißig Jahren ist Papa auf Ford abonniert. Da ich tot bin, wird er die Automarke
Weitere Kostenlose Bücher