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Als ich meine Eltern verließ - Roman

Als ich meine Eltern verließ - Roman

Titel: Als ich meine Eltern verließ - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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erlebt. Nicht auf die Zukunft hoffen, sich nicht an der Vergangenheit festhalten, voll und ganz den Moment leben, und schon habe man Glück.
    Eine Gleichung: Ist also jetzt, da ich tot bin, dein wahres Glück der momentan empfundene Schmerz?
    Alles, was Papa von seiner Verzweiflung ablenken könnte – berufliche Verpflichtungen, Telefonanrufe, weitere Schritte usw. –, ist ihm zuwider. Das Einzige, wonach er sich wirklich sehnt, ist die vertraute Gegenwärtigkeit des Leids, das mein Tod in ihm auslöst. Mit dieser Gegenwärtigkeit wird er eine Weile beschäftigt sein. Er will den Moment voll und ganz leben. Und deshalb kultiviert er ihn. Zieht sich zurück. An meinem Grab sitzen und weinen, ringsum der grenzenlose Himmel von Douarnenez, im Hintergrund das Meer, vor dem mein Grab winzig klein aussieht, weinen, den Schmerz aufnehmen, ihn fast lieb gewinnen. Das magere Glück seines jetzigen Moments ist sein Unglück.
    Papa ist sauer auf jeden, der ihn davon abbringt.
    Um mit mir in Kontakt zu bleiben, liest Papa wie ein Besessener in meinen Aufzeichnungen. Eines Abends, während er freudlos in meinen Sachen stöbert, findet er zwischen zwei Absätzen von Platon ein Zitat von Pat Metheny, dick mit Rot eingekreist: »Für eine Streicheleinheit genügt Musik.« Für mich wie auch für dich bedeutete Musik Streicheleinheiten. Er kichert. Die Musik, die Kunst? Von Platon nicht gerade sehr hoch angesehen . Er spricht noch immer mit dem Philosophieschüler. Weiter unten entdeckt er eine quer über den Rand gekritzelte Bemerkung: »Verzicht: Worauf verzichten?«
    Papa, ich habe dir Hefte dagelassen, in denen du noch jahrelang herumblättern kannst.
    Wenn ein Vater von seinem Sohn erbt, sind es Aneinanderreihungen unbegreiflicher Wörter. Ein zeitliches Durcheinander.
    »Verzicht: Worauf verzichten?« Papa kommt noch einmal darauf zurück. Enthält meine Bemerkung vielleicht einen verborgenen Sinn? Zweifellos stammt sie von einem Lehrer aus irgendeiner Unterrichtsstunde, aber woran habe ich gedacht, als ich sie in meinen Hefter schrieb, über welchen Verzicht hat mich mein Lehrer zum Nachdenken gebracht? Eine Liebe? Das Leben? Papa, halt! Du erzählst Blödsinn. Ich konnte auf nichts verzichten. Wenn es darum ging, im Restaurant Essen zu bestellen, bedeutete das für mich, auf der Speisekarte Gerichte auszusortieren; das war für mich beinahe unmöglich, ich war wie gelähmt, während der Kellner geduldig mit dem Stift in der Hand abwartete. Eine endlose Folter. Wie soll man sich zwischen einer Pastete in Blätterteig und Burgunder-Schnecken entscheiden? Verzicht: Worauf verzichten? Papa, Vorsicht: Der Tod verleitet dich dazu, dem kleinsten Detail Bedeutung beizumessen. Dabei weißt du genau, dass diese Bedeutung nie die richtige sein wird, sie ist nicht mehr als ein schlechtes Märchen, Bitterkeit, Reue, Zweifel, ein verbogener Rückspiegel.
    Vielleicht habe ich auf nichts verzichtet. Vielleicht doch. Ja und?
    Mama nuschelt unablässig in ihren Schleier aus Tränen: »Das ist ungerecht, einfach ungerecht!« Zu Papa passt das nicht, »ungerecht«. Er ist nicht gläubig. Wenn es Ungerechtigkeit gibt, gibt es auch einen Ungerechten, Gott. Oder schlimmer: Es gibt den, der eventuell akzeptiert hat zu sterben, mich. Papa kann dieses Leitmotiv nicht ausstehen. Nein, es ist so wenig ungerecht wie gerecht: Es ist nichts als ein Chaos. Papa würde die Vorstellung gefallen, dass die Katastrophe aufgrund eines golden und blau schimmernden Flügelschlags irgendwo am Rand der pazifischen Inseln bei uns ausgelöst wurde. Dank des Schmetterlings, dank der unabänderlichen, unglaublichen Entfernung gäbe es weder Schuldige noch Ungerechtigkeit, nur ein paar Schwingungen in der Luft und dann dieses Erdbeben, die Meningitis, die wie ein Meteorit auf mir eingeschlagen ist.
    Papa dreht sich im Bett zur Seite und streichelt Mama, die sich an die Hoffnung auf Schlaf klammert.
    Papa ist es unbegreiflich, wie er in einem solchen Moment erotische Träume haben kann. Ich bin vor kaum zwei Wochen gestorben, er weint zehnmal am Tag, jeden Abend überschwemmen ihn riesige Wogen der Verzweiflung. Und da tauchen in seinen Nächten nackte Frauen auf, Frauen, mit denen er schlafen wird. Die eine bemalt er – oh!, wenn der Pinsel über ihre Brüste fährt! Mit einer anderen macht er es im Stehen. Eine Nacht bin ich sogar dabei und schaue zu. Eine Frau macht zwischen ihm und Mama die »Scheibe Schinken«. Das ist Familienslang. Auf diese Art haben wir drei

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