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Als ich meine Eltern verließ - Roman

Als ich meine Eltern verließ - Roman

Titel: Als ich meine Eltern verließ - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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Hilfe zu eilen. Will Papa, anstatt zu weinen, wirklich Bilder von meinem Tod machen?
    Heute Abend sortiert Papa die dreiundfünfzig Aufnahmen im Album 25. Oktober : meine Leiche nach vollem Beschuss mit bläulichen Meningokokken. Dreiundfünfzig Aufnahmen von Papas nunmehr unvergänglicher Gegenwart. Hässliche, sehr hässlich anzusehende Fotos. Aber eben Fotos, eindeutig vorhanden, zugegebenermaßen sogar glücklicherweise vorhanden: Papa hätte sich auf ewig Vorwürfe gemacht, wenn er es gelassen hätte. Er weiß nicht, welche Kräfte ihn dazu bewegt haben, das gierige Objektiv auf mich zu richten, anstatt mein Gesicht zu streicheln, in der Hoffnung, dass die Kälte mich nicht besiegt. Jedenfalls haben die Kräfte gewirkt, obwohl er sie nicht besonders mag, da sie seiner Ansicht nach etwas Ungesundes, Teuflisches an sich haben. Aber nun sind die Fotos da, kurz nach meinem Tod, und das ist ihm wichtig. Unermüdlich retouchiert Papa die unter Tränen gemachten Aufnahmen im Reanimationsraum, in dem ich nicht mehr reanimiert wurde.
    Zur selben Zeit sitzen rund um die Welt eine Million Amateurfotografen am Bildschirm und basteln wie Papa an ihren Familienfotos. Mindestens eine Million, vielleicht zwei Millionen, zwei Millionen globalisierte Fotografenklone. Da rücke ich dich wieder in die Mitte. Da mache ich deine roten Augen weg. Da mache ich dich unscharf. Da richte ich dich auf. Und da entferne ich das Bildrauschen. Drehen, vergleichen, bearbeiten … Meistens bearbeiten diese Amateurfotografen das Leben, und sie haben wahrlich ein schönes Bild von ihrem Leben, das Lachen eines Kindes, die lieblichen Züge einer Landschaft oder deren kolossale Gewalt, das neue Auto für die nächste Reise, die goldglänzende Haut der Geliebten. Papa werkelt wie alle herum. Er ist globalisiert, kein Original. Doch er bastelt an meiner unter Beschuss geratenen Leiche. Und fühlt sich sehr allein.
    Früher hat man von der Hand des Toten Abgüsse hergestellt – und diese anschließend auf dem Wohnzimmerkamin postiert. Heute macht man Fotos, die sortiert und archiviert werden.
    Ich sehe grauenvoll aus. Mein blitzartig eingeschlagener Tod ist noch hässlicher als der Tod an sich. Papa hat ein morbides Hobby. Die Maus läuft über den Bildschirm, Tastenkombinationen, Alt-Apfel-Shift, Papa vervielfältigt. Er schiebt den Kontrastausgleich auf null, und ich verblasse, meine Leiche auf dem OP -Tisch wird zu einem Gespenst. Speichern. Er klickt auf ein anderes Bild, die schönen, goldglänzenden Hände von Mama umschließen meine Finger mit den blauen Fingernägeln. Wieder speichern. Einstellung auf mein linkes Profil, speichern, rechtes Profil, speichern, nächste Einstellung auf seine eigene Hand, die über meine noch nicht ganz eisige Stirn fährt, speichern, speichern. Papas Rechner rattert wie verrückt. Was speichern?
    Wegen der vielen Kopien und Bearbeitungen werden aus den dreiundfünfzig Fotos, die Papa, dieser von Liebe und Leid besessene Fotograf, im Reanimationsraum gemacht hat, erst einhundertfünfzig, dann zweihundertfünfzig und letzten Endes fünfhundert computermäßig gehegte und gepflegte Sammelbildchen. Die überarbeiteten Fotos vermehren sich rasch. Papa streichelt mich mithilfe von Pixeln.
    Objektiv betrachtet frisiert Papa eine längst zu Asche gewordene, alte Leiche. Ein Amateurhorrorfilm.
    Er verbringt nicht die gesamte Zeit am Rechner. Auch nachts weint er viel.

2. Kapitel
    … Das Kind, das ich eben hatte
    Nanu! Hab ich es nicht mehr?
    VICTOR HUGO
    AM SAMSTAG, DEN 25. Oktober 2003, um zwölf Uhr, siebzehn Minuten und vierundfünfzig Sekunden ist das Bankkonto mit dem Betrag von einhundertdreißig Euro und siebzig Cent belastet worden. Papa lässt diese präzise Angabe auf dem Bon, den ihm die Kassiererin vom Intermarché gegeben hat, unentwegt zwischen seinen Fingern kreisen, achthundertdreiundsechzig alte Francs um Viertel nach zwölf. In vier Stunden würde ich tot sein, und Papa kauft im Supermarkt ein.
    Er wird ihn von nun an hassen, den unumgänglichen wöchentlichen Einkauf. Schon seit Langem verachtete er diese Orte im Nirgendwo – grässliche Musik, mittelmäßige Produkte, anbiedernder Aufbau, schemenhafte Menschen, die sich in gebückter Haltung von einem Regal zum nächsten schieben. Dennoch ging er Woche für Woche dorthin – die Paradoxien von heute. Dass er die letzten Viertelstunden, in denen er die Möglichkeit gehabt hätte, bei mir zu sein, dort vergeudet hat, dieser Gedanke macht ihn fertig.

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