Als ich meine Eltern verließ - Roman
wäre das eine Art Hilferuf. Also, schlecht geht es mir nicht, ich bin nicht schwach, nein, ich bin nicht außerstande zu arbeiten. Aber ich schulde euch die Wahrheit, ich kann nicht sagen, dass es mir gut geht: Mir geht es ganz und gar nicht gut. Es ist also einfacher und schlimmer zugleich. Mir geht es nicht schlecht, und mir geht es nicht gut. Zu einem anderen Zeitpunkt werde ich versuchen, euch diese Trauer ausführlicher zu erklären. Heute nicht.«
Letzten Montag im Theater, als er wieder zu arbeiten begann, richtete sich Papa mit diesen Worten an seine Mitarbeiter.
Papas Augen hören nicht auf zu weinen. Als hätten die unwillkürlich fließenden Tränen die Macht übernommen und sich maßlos an seinen Sehschlitzen vergangen. Das hat zur Folge, dass sein linkes Auge von ganz allein weint, selbst wenn Papas Seele gar nicht genau weiß, ob sie es ist, die gerade weint.
Es ist jetzt zwei Wochen her, dass ich gestorben bin. Morgen früh, das hat sich Papa fest vorgenommen, wird er auch den Rest meiner schmutzigen Wäsche in die Reinigung bringen. Jedenfalls nicht heute Abend, morgen. Die Stunden vergehen. An Schlaf ist nicht zu denken. Papa öffnet iPhoto in seinem Computer. Geradezu zwanghaft versinkt er in den Fotos aus meinem Leben, die er nicht müde wird, sich Tag für Tag anzuschauen.
Album Gras 2003 . Die letzten Aufnahmen, die ich selbst gemacht habe. Es war dieses Jahr Anfang März, vor sechs Monaten, an Karneval. Mama und Papa hatten sich verkleidet – im orientalisch-venezianischen Stil, sie sahen lächerlich aus, aber es war lustig, sie so maskiert und übermäßig geschminkt zu sehen, nicht wiederzuerkennen. Verkleidet wie die Kinder – dafür waren sie doch viel zu alt! Ganz Douarnenez feierte Les Gras, das Karnevalsfest der Fischer, und sie mittendrin. Nur ich hatte keine Lust, mich zu verkleiden. Heute vermutet Papa, dass sie mich mit etwas mehr Drängen wahrscheinlich dazu gebracht hätten, ein Kostüm anzuziehen. Ein wenig Ermunterung hätte tatsächlich gereicht. Aber ihr habt euch nicht getraut. Pech. Für wen eigentlich, für mich oder für euch?
Album Hafen von Douarnenez . 24. Oktober, der Tag vor meinem Tod. Morgendämmerung, Bilder eines traumhaften Sonnenaufgangs über einem Dunstschleier am Strand von Ris, gegenüber vom Haus. Normalerweise verspricht die Morgendämmerung Verheißungsvolles. Heute ist nichts Verheißungsvolles mehr da. Papa schaudert es beim Anblick dieser stimmungsvollen Morgendämmerung, die nichts verkündet, weder Frieden noch das Unheil vom Tag darauf. Wütend löscht Papa das Album.
Album 25. Oktober 2003 . Es galt, keine Zeit zu verlieren. Angesichts des Zustands, in dem ich mich befand, bat das Krankenhaus darum, mich vom Reanimationsraum, in dem ich gerade verstorben war, direkt in die Leichenhalle überführen zu dürfen. Hohe Wahrscheinlichkeit eines beschleunigten körperlichen Zersetzungsprozesses. Da meine Klamotten kaputt sind, weil sie hastig mit der Schere auf dem OP -Tisch zerschnitten wurden, und überall Blutflecke haben, ist es ratsam, mich vorher noch umzuziehen.
»Beeilen Sie sich, ziehen Sie ihm schnell noch andere Sachen über. Das wäre angebracht. Außerdem schließt die Leichenhalle in zwei Stunden.«
Sie begreifen, ohne zu begreifen, ich muss umgezogen werden, bevor mein Körper zu steif geworden ist. Sie folgen willenlos. Grauenvolle Autofahrt von Quimper nach Douarnenez und zurück, um in aller Eile die Wahl meiner letzten Kleidung zu treffen. Ich bin nicht einmal eine Stunde tot und schon im Totengewand! Weinend, kreischend, am Boden zerstört, fassungslos darüber, sich meinem Tod scheinbar schon ergeben zu haben, sind Mama und Papa im Auto losgerast, zwanzig Kilometer, blindlings wie die Idioten. Zu Hause angekommen schnappen sie sich meinen blauen Kapuzenpulli, den schwarzen Jogginganzug, die schwarzen Turnschuhe, weiße Socken und ein Paar Unterhosen – bestimmt kommt man nicht ohne Unterhosen auf den Friedhof. Schluss, es reicht, schnell zurück zum Krankenhaus, Lion ist dort, schnell wieder zu ihm, bestürztes Weinen, zurück nach Quimper, zwanzig Kilometer durchgehend von Tränen geblendet, Gefahr im öffentlichen Straßenverkehr. Lion ist dort, Lion ist dort , als hätte ich da bereitgestanden.
Wie hat Papa in dem Wirbel noch daran denken können, seinen Fotoapparat einzustecken? Wer Foto sagt, sagt Blick, Distanz, Schritt zur Seite. Der Paparazzo fotografiert, anstatt dem kleinen, mit dem Tode ringenden Mädchen zu
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