Als ich meine Eltern verließ - Roman
erspart blieb.
Die Zweifel schlüpfen durch eine andere Tür wieder herein. Er gesteht sie ihr am Telefon: Was sonst, als von meinen seelischen Nöten zu erzählen, sollte ich bei einer Psychologin?
Lautlos weint Papa am Telefon. Ich hatte dir nichts erzählt? Ja und? Verdammt, Papa, das war meine Sache, nicht deine. Ich hätte mich sowieso nicht bei dir ausgesprochen.
Die Chefärztin bricht das Schweigen: »Wie dem auch sei, Monsieur, und was ich Ihnen noch sagen wollte, ein solcher Erreger, das hat nichts mit einer Behandlung zu tun…«
Rasch, zu rasch erwidert Papa: »Sind Sie sich sicher?«
Stille. Dann sagt die Ärztin ehrlich: »Nein, ich bin mir nie sicher. Man kann sich nie sicher sein. Die Medizin ist nur ein kleiner Teil.«
Die Psychologin redete nicht um den heißen Brei herum, wich nicht aus, ging weder Papas Angst aus dem Weg noch seiner Sehnsucht oder der rätselhaften Ungewissheit.
Nachdem er aufgelegt hat, muss Papa lange weinen. Die Medizin ist nur ein kleiner Teil. Die Psychoanalyse auch.
Chaos. Papa hört sich die Erda von Wagner an, fortissimo , die Mutter der Parzen und Walküren, die nichts mehr hören kann. Wie in einem Film sieht er die Inschrift, die er am Tag zuvor in Ploaré am unteren Rand eines Kindergrabs entziffert hat, an seinem geistigen Auge vorüberziehen: »Gott sah dich, nahm dich auf in seiner Liebe und sagte: Komm!« Dieser in seinem Egoismus ungeheuerliche, pädophile Befehl macht ihn rasend. »Komm! Lass dein Leben für mich!« Der Gott der Christen ist eindeutig ein Schweinehund. Das Schicksal auch.
Auch das Unbewusste zermartert Papa anschließend das Gehirn, immerhin sitzt er an der Quelle und muss schließlich wissen, welche Dämonen ihn beherrschen.
Wotan ratlos, Erda besiegt, Tristan mit dem Tode ringend, Wagner strickt Leitmotive im Kopf eines immer älter werdenden Irren. Es ist morgens. Wie üblich weint Papa.
Papa rief: »Es lebe das Leben«, weil er seit jeher daran geglaubt hat, weil so ein dummer Tölpel wie er an der Schönheit der Welt festhielt. Jetzt wird er umso lauter rufen: »Es lebe das Leben.« Gewiss nicht mehr, weil er daran glaubt, aber weil es nötiger denn je ist. Als ich aufgebahrt in der Leichenhalle lag, hat Papa, obwohl er über meinen Tod wahrscheinlich noch verzweifelter war als meine Freundin Marie, sich selbst zusehen können, wie er sich bei ihr einhakte und wie er sie in der Eiseskälte einer bereits winterlichen Sonne genauso wie einen Sänger auf der Bühne dazu bringen wollte zu singen: »Es lebe die Sonne! Es lebe die Sonne!« Sie weinte, schluchzte, war untröstlich und wollte weder singen noch rufen, doch er ließ sie nicht los, weinte ebenfalls, aber ohne sich davon abbringen zu lassen, er wollte es unbedingt, schüttelte sie und bestand regelrecht darauf. »Ruf es hinaus, sing es mit mir: Es lebe die Sonne!« Er drehte sie mit dem Rücken zur Totenhalle, das Gesicht auf den blauen Himmel gerichtet, und hielt unbeirrt an seiner irrsinnigen Übung fest. Er hüpfte und sang: »Es lebe die Sonne! Es lebe die Sonne! Es lebe die Sonne, trotzdem!«
Endlich gab sie nach, warum auch immer. Um dem vor Trauer lächerlich und verrückt gewordenen Alten einen Gefallen zu tun, der zwei Meter vom Sarg seines Sohns entfernt tanzt und grölt: »Es lebe die Sonne! Es lebe die Sonne! Es lebe das Leben!« Durch ihre Tränen hindurch rief auch sie, zwar nicht sehr laut: »Es lebe die Sonne!« Er bildete sich ein, der jungen, völlig niedergeschlagenen und nicht einmal verheirateten Witwe von neunzehn Jahren ein wenig Lebenslust eingepflanzt zu haben. Darum ging es immer nur, um Energie, injiziert in die Seele dieser Frau, die nun einen Toten liebte. Vielleicht stimmt es, dass du es geschafft hast, Papa, hoffentlich. Aber du, wenn du mal ehrlich bist, rufst du immer noch: »Es lebe die Sonne! Es lebe das Leben!«? Noch immer?
Stille. Das Einzige, was man bei dir sicher weiß, ist, dass die Sonne nicht dein Ding ist. Mama dagegen betet sie an.
Die nicht in Worte zu fassenden Glücksmomente ihres Mutter- und Vaterdaseins haben sie, als ich ein Baby war, bis in die Haarspitzen genossen. Welch ein Glück, mit dem Leben zu leben.
Jetzt müssen sie mit dem Tod leben. Die Momente der Trauer lassen sich in Worte fassen. Die Zeit des Todes ist entsetzlich gut mit Worten zu beschreiben. Papa steckt mittendrin.
Als guter, moderner Stoiker glaubt Papa – wie heute wahrscheinlich jeder –, dass das wahre Glück der Augenblick sei, den man gerade
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