Als ich meine Eltern verließ - Roman
immer herumgealbert, als ich klein war, aber auch viel später, letzten Monat noch, glaube ich; ich liebte diese Sandwiches, ich Schinken, sie die Scheiben Brot.
Es herrscht allmorgendliches Chaos.
Etwa zehn Tage vor meinem Tod war Mama besorgt von der Mammografie zurückgekommen, eine kleine Zyste in der linken Brust. Untersuchungen wurden eingeleitet, Röntgenaufnahmen nach Brest geschickt. Definitive Diagnose in drei Wochen. Papa bangt. Martine G., die befreundete Gynäkologin, versichert, dass es normal ist, in diesem Alter Zysten zu haben, man muss sie beobachten, das ist alles. Pierre G. meinte sogar, dass man nie eine gesunde Zyste operieren sollte.
Nein, bitte nicht das! Gnade! Kein Krebs für Mama. Mit dem Tod seines Sohns hat Papa geglaubt beziehungsweise wie ein Hoffnungsloser gehofft, ihm sei das Schlimmste, was einem widerfahren kann, widerfahren. Irrtum, er kann noch andere schreckliche Dinge erleben, den Tod seiner geliebten Frau, Einsamkeit, Armut, Krieg, Krankheit, körperliches Leid, Verfall und andere persönliche Katastrophen. Bild dir nicht ein, du wärst Titus Andronicus, Papa. Nur weil dein einziger Sohn gestorben ist, hast du noch lange nicht das Schlimmste kennengelernt. Noch kannst du nicht in schallendes Gelächter ausbrechen.
Heute Morgen sind die Ergebnisse eingetroffen. Negativ. Mama und Papa können es gerade so positiv nehmen.
Papa muss sich in Narzissmus üben. Liebkosen, lächeln, bewundern. Er muss sich wieder selbst lieben. Zurzeit findet er an nichts Gefallen, nichts spricht ihn an. Heißt das, dass er einen Nachkommen gebraucht hat, um sich selbst zu lieben? Gestern Abend hat es Papa in Worte fassen können und zu Mama gesagt: Der Sinn seines Lebens, der Sinn seiner Welt, liegt in der Vektorfolge der Dinge, und ich war zu deren Ursprung und Horizont geworden. Jetzt weiß er nicht mehr, wie er die Welt ordnen soll. Welchen Sinn hat sie, so sie überhaupt einen hat? Papa hat seine apriorischen Bedingungen der Wahrnehmung verloren. Schulmeisterlich sagte er einmal zu mir, dass bei Kant Raum und Zeit so etwas wie Softwareprogramme sind. Aktuell hat er eine schwerwiegende Errormeldung, ich bin sein Programm gewesen, sein GPS – das war ihm nicht bewusst.
Der Sinn des Lebens ist ein Vektor, nichts weiter als ein Vektor, eine Richtung. Momentan ist nichts mehr mit Pfeilen gekennzeichnet, sein Kompass hat Leerlauf.
Aber nein, da ist ja noch jemand: Martine! Sinn! Es lebe das Leben! Papa kommt wieder zu sich. Nicht lange, denn er hat Angst, kindliche Angst davor, dass sie ihn eines Tages verlässt, dass sie vor ihm stirbt, Angst vor Krebs, Angst, dass sie ihn nicht mehr liebt! Der Kompass dreht durch. Papa entdeckt seine Abhängigkeiten.
Mama beteuert: »Du weißt, ich würde es verstehen, wenn du ein Kind haben wolltest, aber das wäre notgedrungen von einer anderen Frau, notgedrungen.« Er wird es nicht tun.
Louise und Papa gehen am Hafen spazieren. Louise versucht, Papa ins Gewissen zu reden. Dieser Termin mit der Psychologin am Tag nach meinem Tod sei als ein Versprechen an das Leben zu verstehen, ein Zeichen meiner Lust zu leben, genauso wie mein Abo von Le Monde und bei der Oper. Vielen Dank, Louise, dass du Papa hilfst. Sie erklärt, dass jeder junge Mensch um die zwanzig zum Psychologen gehen sollte, um über das zu reden, worüber er weder mit Eltern noch mit Freunden reden kann. Wahrscheinlich war es das, was ich bei der Psychologin wollte, ich musste nur gründlich überholt werden, nachdem ich mich in der Adoleszenzphase über mehrere Runden eingefahren hatte. Das hätte er gern.
Seine Wahnvorstellungen verkapseln sich jedoch nach wie vor in ihm. Momentan gibt es eine andere Sache, die ihn mit Blindheit schlägt: Im Laufe der letzten Jahre bis unmittelbar vor meinem Tod hatte er mindestens fünf oder sechs Opern über den Tod inszeniert. Und sogar einmal eine Aufführung über die Trauer um ein Kind. Warum? Warum ausgerechnet dieses ewige Kreisen um die Trauer? Jetzt hält er das alles für Vorausdeutungen, wenn nicht sogar für einen bösen Zauber. Folter. Und warum hat er 2001, zwei Jahre vor meiner Meningitis, noch eine Oper in Auftrag gegeben – Sumidagawa , die Susumu Yoshida gerade komponiert und die erneut vom Tod eines Kindes handelt? Das Unbewusste dringt überall vor, Papa vom Wahn umzingelt.
Na gut, wird er eben wieder einen Psychologen aufsuchen.
»Wenn ihr mich fragt, wie es mir geht, was soll ich euch antworten? Wenn ich sage, es geht mir nicht gut,
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