Als ich meine Eltern verließ - Roman
letzten Endes war er nicht tot, und die Behandlung konnte beginnen. Den ersten Termin mit der Psychologin nahm er wahr. Eine Woche später fing er sich dann Gelbsucht ein. »Ihr Körper spricht eine heftige Sprache«, bemerkte die Analytikerin, die auf die Bezahlung der Sitzungen verzichtete, die er wegen der außerordentlichen somatischen Erscheinung zu Anfang versäumt hatte. Ein Einzug in die Analyse mit Pauken und Trompeten, dreimal pro Woche, sieben Jahre lang. Eines Tages sollte die Psychologin ihm raten, er möge sich besser ein anderes Ausdrucksmittel als seinen anfälligen Körper suchen, das könnte tödlich enden. Papa sei Psychosomatiker. Ein Körper, der heftig gegen jegliche Lust anredet, wird Papas gesamtes Leben beherrschen. Sein Kehlkopfkrebs und später seine Schilddrüsenerkrankung, gehörten sie auch zu dem Körper, der spricht, um nichts zu sagen? Und die Lungenembolie? Die simplen Worte aus der Psychoanalyse, die Teil der täglichen Doxa geworden sind, haben wir ihm bei jeder Gelegenheit untergeschoben, und zwar, dass seine somatischen Beschwerden selbstgemacht sind. Er fand eine Antwort: Meine Genesungen aber letztendlich auch, sie gehören auch zu diesem sprechenden Körper, verdammt noch mal . Und es lebe das Leben! (Refrain.) Immerhin ist er durch die Analyse schlagfertig geworden.
Trotz allem befallen Papa Zweifel. Vielleicht ging ich schon seit Langem zur Analyse, hatte nur nichts erzählt, vor allem ihm nicht. Vielleicht war ich gerade an einem schwierigen Punkt angelangt, und er hatte es nicht erkannt. Papa eingekreist von unzähligen Zweifeln und Gewissensbissen. Hätte er nur … Trauer, die unablässig auf den Punkt gebracht wird, das infame Schuldgefühl leistet ganze Arbeit. Das ist es, was man ewige Reue nennt.
Die ganze Nacht lang geht Papa die Frage nicht mehr aus dem Kopf. Er dreht und wendet sie hin und her. Endlosschleife. Und wenn ich an der brutalen Sprache meines Körpers gestorben bin? Und wenn ich vor Angst gestorben bin, wie er es tun würde, wenn er nur daran dächte, das Unbewusste und die Lust sprechen zu lassen? Und wenn ich wie die Verwandten aus seiner Familie, allen voran sein Vater, auch gefühlsstumm bin? Dank der Analyse ist es bei Papa nicht mehr so ausgeprägt. Nicht immer. Schlafen wird Papa diese Nacht nicht.
Am nächsten Morgen ruft er den medizinischen Dienst der Universität an. Als er seinen Namen nennt, hilft man ihm an der Telefonzentrale sofort weiter: »Ich verbinde Sie nicht erst mit Madame Le Gouellec, sondern am besten gleich mit dem Chefarzt«, sagt eine junge Frau mit sanfter Stimme, noch ehe er die Gründe seines Vorsprechens darlegen kann. Musik in der Warteschleife. In gewisser Hinsicht fühlt er sich erleichtert, nicht wegen der Musik, die wie üblich grauenhaft ist, sondern wegen der aufmerksamen Telefonistin: Sein Anruf kam nicht völlig unerwartet. Anscheinend ist man über den Tod des Patienten, der nicht zum vereinbarten Termin gekommen war, informiert.
Überlege es dir gut, Papa: Noch ist Zeit zum Auflegen. Wie willst du es sagen? Und willst du es wirklich wissen? Und überhaupt: Hast du dich eigentlich gefragt, ob ich gewollt hätte, dass du es erfährst? Die meisten Fragen sind dir ohnehin nicht gestattet. Es gibt ein Berufsgeheimnis, sollte man zumindest hoffen.
Papa will nicht aufgeben. Er fühlt sich verpflichtet durchzuhalten. Um wenigstens Folgendes zu erfahren: Handelte es sich bei dem 29. Oktober um den ersten Termin meines studierenden Sohns bei der Psychologin?
Das ist Grenzüberschreitung, Papa. Was glaubst du im Leben deines Toten zu finden?
Einen Moment später ist Frau Doktor Bernheim in der Leitung. Oder Frau Doktor Barnart? Bernin? Nein, das klingt nach Kardiologe oder Architekt. Papa traut sich nicht nachzufragen und entscheidet sich für Bernheim – klingt mehr nach Psychologe. Die Chefärztin bestätigt das, was Papa befürchtet hat: Man darf ihm nichts sagen. Er bleibt stur. Sie kommt ihm entgegen und lässt ihn erraten, dass es sich um den ersten Termin gehandelt hat – die nachfolgenden Sprechstunden werden nie auf so einem Vordruck notiert, da der weitere Verlauf der Behandlung direkt zwischen Patient und Psychologe vereinbart wird. Dieses Formular kriegst du nur dann, wenn du zum ersten Mal kommst.
Papa ist erleichtert. Ich war also noch nicht in die miesen Fänge dieser Psychologen geraten. Ich machte nicht ohne sein Wissen seit Monaten eine Analyse. Wenigstens etwas, das seinem Schuldgefühl
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