Als ich unsichtbar war

etwas Besseres zu sein, dabei zeigen sie doch nur, wie beschränkt sie in Wirklichkeit sind. Glauben die etwa, eine niedrigere Intelligenz bedeute, dass ein Kind die Bösartigkeit einer Berührung nicht spürt, dass es Ärger in der Stimme nicht wahrnimmt? Besonders in Erinnerung sind mir der Windstoß kalter Luft, der mich jeden Nachmittag aufweckte, wenn eine Frau mir ungeduldig die Bettdecke vom Leib riss, und der Aushilfspfleger, der mich derart brutal und ungeduldig in einen Rollstuhl presste, dass ich herausfiel und kopfüber auf den Boden knallte, als der Stuhl nach vorne kippte.
    Mal abgesehen von diesen Erfahrungen bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass es unter den Leuten, die sich um Kinder wie mich kümmern, mehr gute als schlechte Menschen gibt, denn wenn ich auf die Jahre zurückschaue, sehe ich einen Strom lächelnder Gesichter. Da gab es Unna, die ständig zu schwitzen schien, weil ihre Nase permanent glänzte, oder Heila, deren Puls mit derart ängstlicher Energie schlug, dass ihre Zunge selbst dann nicht zu wackeln aufhörte, wenn sie sich die Lippen leckte. Heute ist Marietta da, die von der Seifenoper Zeit der Sehnsucht total begeistert ist und hinter ihrem ruhigen Äußeren ein hitziges Temperament verbirgt; außerdem Helen, die immer kichert, wenn sie mich kitzelt, und die Fingernägel mit einem abwärts verlaufenden Streifen in der Mitte hat, auf die ich ständig starren muss. Und dann ist da noch meine persönliche Favoritin: Dora. Sie ist mittleren Alters, mollig und stets lächelnd. Ihre Gelassenheit beruhigt mich, und ihre Freundlichkeit verleiht ihren Augen ein weiches, fließendes Braun.
    So unterschiedlich sie auch sein mögen, eine Sache ist all diesen Frauen gemein, und das ist die Freude an Klatsch und Tratsch, Neuigkeiten verbreiten und untereinander Mitgefühl für die Sorgen der anderen zeigen. Ich habe Geschichten über Schlangen gehört, die nachts in Häuser gekrochen kamen und von einem tapferen Ehemann totgeschlagen wurden, Märchen von lecken Wasserleitungen, die dazu führten, dass es im Haus zu regnen begann und die Decken herabzustürzen drohten, und Schilderungen von Enkelkindern, die wie verrückt auf ihren Betten herumspringen, wenn ein bestimmtes Lied gespielt wird. Ich weiß von den Bemühungen, mit einem Elternteil fertigzuwerden, das an Alzheimer leidet, von den Sorgen, sich um kranke Verwandte kümmern zu müssen, und von den Schwierigkeiten, Unterhalt von einem zahlungsunwilligen Exmann zu bekommen.
    Aber worüber sie ansonsten auch immer reden mögen, mir ist klar geworden, dass es drei Themen gibt, auf die Frauen in ihren Gesprächen unweigerlich zurückkommen: ihre Männer, die häufig eine Enttäuschung sind; ihre Kinder, die in der Regel wunderbar sind; und ihr Gewicht, das immer zu hoch ist. Ein ums andere Mal höre ich sie sich einander bemitleiden, wie schwer es ist, Männer verantwortungsbewusster und Diäten effektiver zu machen. Während ich die Probleme mit ihren Ehemännern nicht verstehe, rutscht mir immer das Herz in die Hose, wenn ich sie von Kalorienzählen reden höre. Frauen glauben anscheinend, es müsse ihnen besser gehen, wenn sie sich einer Diät unterziehen, aus Erfahrung weiß ich es aber besser. Tatsächlich kann ich mit Bestimmtheit sagen: Je weniger Frauen essen, desto griesgrämiger werden sie.

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Tag für Tag
    D as Leben nimmt endgültig einen neuen Anlauf für mich, als meine Eltern darüber reden, wie sie mir am besten helfen können. Ihre Vorstellungen übersteigen bei weitem das Hantieren mit Papiersymbolen, und ich weiß, dass sie mir eine elektronische Kommunikationsvorrichtung wie diesen schwarzen Kasten kaufen werden, den wir bei meiner Untersuchung gesehen haben. Das ist ein Vertrauensvorschuss, für den ich mich gerne bei ihnen bedanken würde. Sie haben ja immer noch keine Ahnung, ob ich in der Lage bin, mit so einem Gerät umzugehen, doch sie wollen es versuchen, da der durch meinen Test hervorgerufene kleine Hoffnungsfunke ein Feuer in ihnen entfacht hat.
    Gemeinsam entdecken wir eine neue Welt, die sich ›Augmentative and Alternative Communication‹ nennt, kurz AAC . Das ist ein Angebot von Systemen und Methoden, die dem Stummen durch alles Mögliche eine Stimme bieten, von den einfachsten Formen der Kommunikation wie dem Zeigen, Blinzeln oder Starren auf Symbole, die einem durch eine andere Person hingehalten werden, bis hin zu sprachgenerierenden Hochtechnologie-Geräten und Computerprogrammen, die von dem