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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pistorius Martin
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Schoß und schiebt mich zu dem braunen Tor, das den Eingang zu ›Alpha and Omega‹ sichert. Während er mich den Korridor hinab zu meinem Klassenzimmer schiebt, weiß ich, dass ich gleich für einen weiteren Tag zurückgelassen werde. Normalerweise ist es zwischen 7.15 und 8.10 Uhr, wenn mein Vater sich verabschiedet, und das heißt, ich muss bis zu elf Stunden warten, bevor ich ihn wiedersehe.
    »Tschüss, mein Junge«, sagt er, während er sich zu mir herunterbeugt, um mir einen Kuss zu geben. Dann höre ich, wie sich seine Schritte entfernen, wenn er den Korridor entlanggeht.
    Die Tage im Pflegeheim beginnen im Grunde erst richtig gegen 9.30 Uhr. Daher sitze ich bis dahin in meinem Rollstuhl oder werde manchmal in einen Knautschsessel gelegt, was ich bevorzuge, da mein Körper darin so schön gestützt wird. Dann liege oder sitze ich für den Rest des Morgens herum, und zuweilen hebt man mich hoch, um Dehnübungen zu machen oder an Aktivitäten teilzunehmen. Nach einer Tasse Tee am späten Vormittag werde ich ab und zu an die frische Luft gebracht, und anderthalb Stunden später gibt es Mittagessen, jeden Tag dasselbe: Fruchtkompott und Joghurt, gefolgt von Orangen- oder Guavensaft. Mittags legt man mich wie die anderen Kinder zum Schlafen hin, und drei wertvolle Stunden verstreichen, bevor ich für mein Nachmittagsgetränk geweckt und wieder in meinen Rollstuhl gesetzt werde, um auf Dad zu warten.
    Diesen Tagesabschnitt empfinde ich oft als besonders hart, da Dad gewöhnlich erst zwischen 17.20 und 18.30 Uhr erscheint, obwohl das Heim offiziell bereits um 17.15 Uhr schließt. Mein Vater kann seinen Arbeitsplatz nicht früher verlassen, und häufig wird er im Berufsverkehr aufgehalten. Einigen des Heimpersonals missfällt das, und so muss ich mir häufig anhören, dass man über ihn schimpft. Das macht mich jedes Mal traurig und wütend, denn ich weiß, dass er sich die allergrößte Mühe gibt.
    »Hallo, mein Junge«, sagt er lachend, als er endlich mein Klassenzimmer betritt, und ich seufze erleichtert, da ich wieder einen Tag hinter mich gebracht habe.
    Dann wird mir der Beutel in den Schoß gelegt, ich werde zum Auto geschoben, der Rollstuhl wird im Kofferraum verstaut, und wir fahren nach Hause, wobei wir Radio hören. Nachdem wir den Wagen in der Einfahrt abgestellt und das Haus betreten haben, treffen wir Mam gewöhnlich beim Kochen an, danach sitzen wir um den Tisch im Esszimmer herum, bevor ich eine Tasse Milchkaffee bekomme und auf das Sofa im Wohnzimmer direkt gegenüber dem Fernsehapparat gelegt werde. An den meisten Abenden schläft mein Vater mitten im Programm in seinem Sessel ein, dann wacht er auf, setzt mich in meinen Rollstuhl, schiebt mich ins Badezimmer und legt mich ins Bett, nachdem er mich ausgezogen hat.
    Die einzige Abwechslung in diesem Routineablauf gibt es an den Wochenenden, wenn ich zu Hause bleibe und so lange im Bett liegen kann, bis ich ins Wohnzimmer geholt werde, wo ich den Tag liegend oder sitzend verbringe. Aber zumindest bin ich im Kreis meiner Familie und höre, wie sie alle reden. Das sind die Tage, die mir wieder die Kraft für die nächste Woche geben, denn ich bin gerne mit meinen Eltern und David zusammen – und war es ebenfalls mit Kim, bevor sie nach Großbritannien zog.
    Das ist aber auch der Grund, weshalb ich immer traurig bin, wenn Dad mich am Sonntagabend badet und mir dabei die Haare wäscht, denn das sind die Vorbereitungen für eine weitere Woche im Pflegeheim. Alle zwei oder drei Wochen schneidet er mir die Finger- und Zehennägel, und das hasse ich sehr.
    So sieht die Routine meines Lebens aus, und so war es, seit ich mich erinnern kann. Ist es da verwunderlich, dass ich mich an jedes Wort klammere, das meine Eltern von sich geben, wenn sie beraten, was zu tun sei, und dass ich von einer Zukunft zu träumen beginne, die ich nie für möglich gehalten habe?

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    11
Die Kreatur
    V irna alleine war es gewesen, die mir einen sicheren Weg aus meinem stummen Dasein geebnet hatte, drei Jahre nach unserer ersten Begegnung. Im Gegensatz zu Menschen, die mich jetzt mit Symbolen und Wählscheiben, Schaltern und Bildschirmen zu erreichen versuchen, konnte sich Virna nur auf ihre Intuition verlassen. Wie ein Meisterdetektiv verfolgte sie die Spuren, die ich manchmal unbeabsichtigt hinterließ, und suchte dabei nie nach einem einzigen eindeutigen Beweisstück. Stattdessen gab sie sich damit zufrieden, eine Kette winziger Puzzleteile zusammenzufügen, um daraus ein

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