Als ich unsichtbar war
Ganzes zu machen.
Das brauchte Zeit. Zunächst wollte ich überhaupt nicht, dass jemand mit mir zu kommunizieren versuchte. Ich hatte sogar Angst davor, jemand könnte es tun. Doch als ich merkte, dass Virna nicht aufgeben würde, öffnete ich mich nach und nach, und im Verlauf der folgenden Monate und Jahre wuchs eine Freundschaft zwischen uns.
»Wie geht’s dir denn heute, Martin?«, fragte sie, wenn sie in den winzigen Raum im ›Alpha and Omega‹ kam, in dem sie mich einmal wöchentlich massierte.
Auf dem Rücken liegend, beobachtete ich dann, wie sie den Reißverschluss der kleinen Tasche öffnete, in der sich die ganzen Öle befanden, die sie ständig mit sich herumschleppte. Wenn ich hörte, dass eine Flasche geöffnet wurde, wartete ich, welcher Geruch sich verbreitete. Manchmal war es Zitrone, manchmal Minze oder Eukalyptus, doch sobald der Duft meine Nase erreichte, wusste ich, dass ich gleich hart rangenommen würde.
»Ich nehme mir jetzt erst mal deine Füße vor, danach mache ich den Rücken«, sagt Virna. »Die haben wir ein paar Wochen vernachlässigt, und ich bin sicher, sie müssen wund sein.«
Sie schaut mich fragend an. Virna ist klein und schlank, ihre Stimme passt dazu, und ich habe immer gewusst, dass sie nett ist. Schon beim ersten Mal, als sie mit mir sprach, konnte ich es hören, und ich spürte es an den heilenden Fingerspitzen, die meine, infolge fehlenden Gebrauchs, seit langem verkümmerten Muskeln bearbeiteten.
Mein Herz schmilzt, wenn ich Virna anschaue. Wir haben jetzt fünfundvierzig gemeinsame Minuten, und wie ein Kind, das nachzählt, wie viele Muscheln es an einem Tag am Strand gesammelt hat, werde ich später jede einzelne Minute noch einmal durchleben. Ich muss aufpassen, dass ich diese Momente nicht zu hastig angehe. Stattdessen werde ich jeden möglichst langsam genießen, sodass ich ihn mir wiederholen kann, denn diese Augenblicke sind es, die mir jetzt Kraft geben. Virna ist die Einzige, die mich wirklich sieht. Wichtiger noch, sie glaubt an mich. Sie versteht meine Sprache – mein Lachen, meinen starren Blick und mein Nicken, denn das ist alles, was mir zur Verfügung steht.
»Geht es deiner Familie gut?«, fragt sie und massiert mich weiter.
Meine Augen verfolgen sie, während ich auf dem Rücken liege. Ich verziehe keine Miene, um ihr mitzuteilen, dass jemand krank ist.
»Ist dein Vater erkrankt?«
Ich antworte nicht.
»Deine Mutter?«
Wieder nichts.
»Ist es David?«
Ich schenke Virna ein Lächeln, um zu zeigen, dass sie richtigliegt.
»Armer David«, sagt sie. »Was hat er denn? Ist er erkältet?«
Ich werfe den Kopf mit einem Ruck nach unten.
»Mandelentzündung?«
Ich zucke erneut mit meinem schwachen Genick, doch das reicht, um Virna verstehen zu lassen. Sie fährt sich über Ohr, Nase und Kehle, und als sie die Brust erreicht, lächle ich wieder.
»Er hat eine Brustkorbinfektion?«
Ich ziehe die Augenbrauen zusammen, um ihr zu erklären, dass sie fast recht hat.
»Doch nicht etwa Lungenentzündung?«, fragt sie.
Ich stoße heftig Luft durch die Nase.
»Was gibt es denn sonst noch?«
Wir starren uns an.
»Bronchitis?«, fragt Virna schließlich.
Ein Glücksgefühl durchflutet mich, während ich lächle. Ich bin Muhammad Ali, John McEnroe, Fred Trueman. Die Menge tobt und applaudiert, als ich eine Ehrenrunde im Stadion drehe. Virna erwidert mein Lächeln. Sie versteht. Ich werde diesen Moment bis zu unserem nächsten Termin ein ums andere Mal durchleben, denn dieser – und die anderen, die diesem ähneln – sind ein Schwert, das den Mantel der Unsichtbarkeit durchtrennt, in den ich eingehüllt wurde.
Virna beflügelte sogar andere, mehr mit mir zu reden – insbesondere meine Schwester Kim. Ich wusste schon immer, dass ihr mein Wohlergehen am Herzen lag: Sie fütterte mich mit Bratensoße, die sie auf ihrem Teller zurückgehalten hatte, weil ich sie unheimlich gerne mochte, sie brachte mir Pookie, damit er sich auf meinen Schoß legen konnte, oder sie zog meinen Rollstuhl dicht zu sich heran, wenn sie fernsah. Und als Kim mitbekam, dass ich auf Virna reagierte, begann sie mehr mit mir zu reden: Sie erzählte mir aus ihrem Leben auf eine Weise, wie es wohl jede Schwester ihrem älteren Bruder gegenüber tun würde. Sie berichtete, was sich an der Universität abspielte, dass sie sich während der Ausbildung zur Sozialarbeiterin Sorgen wegen einer Seminararbeit machte, oder sie erzählte von den Freunden, die sie glücklich gemacht hatten,
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