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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pistorius Martin
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erstaunt mich. Die Erkenntnis, vielleicht fragen zu können »Was gibt’s im Fernsehen?«, verblüfft mich. Diese einfachen Sätze sind mein ganz persönlicher Mount Everest, und die Vorstellung, ich könnte sie bald beherrschen, ist schier unglaublich.
    Ich bin auf gewisse Symbole angewiesen, die ich neugierig betrachte. Wer wird durch ein ausdrucksloses Gesicht mit einem Fragezeichen darin dargestellt, und Was ist ein Viereck mit einem Fragezeichen in der Mitte. Dies sind die Bausteine für Fragen, die ich bislang nicht habe stellen können. Ich möchte oder Ich will erscheint als ein Paar Hände, die nach einem roten Block greifen, während zwei parallel laufende dicke schwarze Linien Ich bin bedeuten. Auf dieses Symbol werde ich vielleicht häufiger als auf alle anderen zurückkommen, da ich so unsicher bin, was ich nach diesen beiden kurzen Wörtern sagen soll. Ich bin … Was? Wer? Ich weiß es nicht. Ich hatte nie die Möglichkeit, es herauszufinden.
    Bevor ich beginne, diese Fragen zu beantworten, muss ich die Grundlagen aller Sätze beherrschen – einfache Wörter und deren Symbole. Saft, Tee, Zucker, Milch, Hallo, auf Wiedersehen, ich, du, wir, sie, nein, ja, Huhn, Chips, Fleisch, und, Haar, Mund, Brot, tschüss: Erst wenn ich diese gelernt habe, kann ich anfangen, sie zusammenzusetzen und Sätze damit zu bilden.
    »Ich hätte gerne Orangensaft.«
    »Nein, danke!«
    »Ich habe Hunger.«
    »Ich möchte ins Bett.«
    »Ich hätte gerne Radieschen und ein Toastbrot mit Marmelade.«
    Doch vorher muss ich meinen Eltern zeigen, welches Softwareprogramm ich haben möchte. Dazu muss ich mit dem Kopf nicken, wenn sie die Namen vorlesen, und es ist fast unmöglich, eine Entscheidung zu treffen. Immer wieder haben sie mich gefragt, doch ich schaffe es einfach nicht, eine Wahl zu treffen, und seit Wochen sind wir kein Stück weitergekommen.
    »Es gibt Situationen im Leben, da muss man sich einfach vorwärtsbewegen«, hat mir mein Vater vor ein paar Tagen gesagt. »Dann muss man eine Entscheidung treffen und sich daran halten. Wir möchten doch nur, dass du uns zeigst, welche Software wir für dich kaufen sollen. Wir sind ziemlich sicher, dass du weißt, welche du haben möchtest, Martin.«
    Er schaut mich an, während ich ihn stumm anstarre.
    »Dies ist doch nur der Beginn«, sagt Dad sanft. »Es geht nicht um Leben und Tod.«
    Für mich aber scheint es so. Nie zuvor habe ich Entscheidungen getroffen, und jetzt soll ich die schwierigste von allen treffen. Wie wählt man die Brücke aus, die man benutzt, um von einer Welt in die andere zu gelangen? Diese Software ist nicht nur ein Stück Ausrüstung: Sie wird meine Stimme sein! Was, wenn ich die falsche Wahl treffe? Was, wenn ich etwas nehme, das mich zu sehr einschränkt oder in der Anwendung zu komplex für mich ist? Wenn ich einen Fehler mache, bekomme ich diese Chance vielleicht nie wieder.
    »Wir können etwas anderes kaufen, wenn wir beim ersten Mal nicht das Richtige bekommen«, sagt mir meine Mutter.
    Doch ihre Beschwichtigungen können meine Ängste nicht zerstreuen. Während ein Teil von mir sich noch fragt, wie weit der Glaube meiner Eltern reicht – wenn ich die Software nicht benutzen kann, werden sie dann den wilden Traum aufgeben, von dem die Skeptiker ohnehin glauben, er werde sich nie realisieren lassen –, frage ich mich gleichzeitig, was es bedeutet, wenn alles gut geht und sich meine Welt langsam öffnet. Meine Eltern glauben inzwischen ja vielleicht, dass ich zu mehr imstande bin, als irgendjemand für möglich gehalten hat, da sie selbst gesehen haben, dass meine rechte Hand etwas besser mit dem Schalter umgehen kann, und sie haben erlebt, dass mein Training mit dem Auswählen der Symbole schnell vorangeht. Doch sie haben immer noch nicht ganz verstanden: Was geschieht mit uns, wenn sich die uns seit langem vertraute Welt in einem Maße ändert, dass sie aus den Fugen gerät? Ich bin so sehr an einen Käfig gewöhnt, dass ich nicht weiß, ob es mir gelingen wird, bis zum Horizont zu blicken, selbst wenn ich auf ihn starre.
    Während mich noch Zweifel und Angst erfüllen, zwinge ich mich, an ein Telefonat zu denken, das meine Eltern und David ein paar Wochen zuvor zu Weihnachten mit Kim geführt haben. Die vier schwatzten miteinander, und ich saß nervös vor dem Computer meiner Eltern, meine Hände zitterten noch stärker als gewöhnlich, als ich langsam Symbole anklickte. Dann hielt mein Vater den Telefonhörer dicht an den Lautsprecher des

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