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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pistorius Martin
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hätte es nie tun dürfen.«
    Er schwieg einen Moment.
    »Aus irgendeinem Grund muss ich ständig daran denken, und ich glaube, das kommt daher, dass mir, wenn ich mich an jenen Tag erinnere, klar wird, damals von jener Kuh eine stärkere Reaktion bekommen zu haben, als ich sie jetzt bei dir erlebe, meinem eigenen Sohn. Ich verstehe einfach nicht, wie das sein kann. Wie kannst du Jahr für Jahr nur so still und stumm sein?«
    Dads Atem kam ruckartig. Ich hätte ihn gerne beruhigt, doch ich konnte nichts tun, während er dort schweigend saß, bis sich seine Atmung wieder normalisierte. Dann stand er auf und beugte sich zu mir herunter, um mir einen Kuss auf die Stirn zu geben, wobei ich spürte, dass er seine Hände sanft um meinen Kopf gelegt hatte. Dort ließ er sie ein paar Sekunden verweilen, wie er es jeden Abend tat.
    »Es ist Zeit fürs Bett, Junge«, sagte er.
    Dies war das einzige Mal in all den Jahren, in denen er alleine für mich sorgte, dass mir mein Vater irgendeinen Hinweis darauf lieferte, wie verzweifelt er manchmal war. Doch wie sehr mich sein felsenfester Glaube an mich am Leben erhalten hatte, wurde mir erst deutlich, als ich im Alter von fünfundzwanzig Jahren zum ersten Mal mit meiner Familie Urlaub machte.
    Normalerweise kam ich ja in das Heim auf dem Land, wenn sie wegfuhren, doch diesmal wurde ich auf eine Reise zum Meer mitgenommen. Ich war furchtbar aufgeregt. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals das Meer gesehen zu haben, und diese riesige rollende Wassermasse raubte mir den Atem. Ungläubig starrte ich auf das Wasser und wusste nicht, ob ich Ehrfurcht oder Angst empfinden sollte. Das Meer schreckte mich ab und faszinierte mich gleichermaßen. Im Laufe der Jahre hatte ich die Art und Weise zu schätzen gelernt, wie das Wasser meinen Körper trug und unterstützte, wie es mich auf eine sonst nicht erreichbare Weise frei machte. Dennoch hatte mir der Gedanke immer Angst bereitet, ich sei ihm schutzlos ausgeliefert und habe keine Möglichkeit, mich mit den Füßen abzustoßen oder mit den Armen kräftig genug zu rudern, um mich an der Wasseroberfläche zu halten, falls ich einmal unterzugehen drohte.
    Begeisterung und Beklemmung beschlichen mich, als mein Vater den Rollstuhl näher ans Wasser heranschob und das Geräusch der Wellen stärker wurde. Dann half er mir auf die Füße und begann mich über den Sand in Richtung Wasser zu bringen. Aber je näher ich ihm kam, desto ängstlicher wurde ich, und mein Vater musste es gespürt haben.
    »Ganz ruhig, Martin! Entspann dich«, wiederholte Dad immer wieder, während die Wellen meine Füße langsam überspülten.
    Doch seine Worte erreichten mich nicht. Adrenalin schoss durch meinen Körper, und ich spürte meine Machtlosigkeit erdrückender denn je, als ich mich dem Meer gegenübersah. Ich wusste, es konnte mich mühelos packen, wenn es wollte.
    Mein Vater führte mich ein paar weitere zögerliche Schritte ins Wasser. »Dir passiert nichts«, versicherte er mir.
    Ich aber empfand nur Angst, als sich das Meer um meine Füße und Beine schloss. Ich zweifelte nicht, dass ich erfasst und fortgeschwemmt werden würde, und dass mir keine andere Chance bliebe, als wieder zurückzugehen.
    Plötzlich spürte ich, wie Dad mich dichter an sich heranzog. »Glaubst du wirklich, ich würde dich im Stich lassen?«, brüllte er über das Rauschen der Wellen hinweg. »Glaubst du nach all den Jahren etwa, ich würde es zulassen, dass dir jetzt etwas zustößt? Ich bin hier, Martin. Ich halte dich. Ich lasse es nicht zu, dass dir etwas passiert. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben.«
    Und in diesem Moment, als ich spürte, wie mich die Arme meines Vaters aufrecht hielten und seine Standhaftigkeit mir Stabilität verlieh, wurde mir erstmals bewusst, dass seine Liebe stark genug war, mich vor einem ganzen Ozean zu beschützen.

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    26
Sie kommt zurück
    E s ist dunkel, und ich öffne die Augen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich bin angsterfüllt. Ich möchte schreien, kreischen, heulen, um gegen die Furcht anzugehen, die kalt in meinen Adern pulsiert.
    Ich wende den Kopf, um auf die Uhr zu schauen.
    Es ist 5.00 Uhr, und ich bin zum vierten Mal aufgewacht in dieser Nacht. Gerade mal 47 Minuten ist es her, dass ich die Augen geöffnet und versucht habe, meinen Träumen zu entfliehen. Heute sind sie besonders schlimm. Ich frage mich, ob sie jemals aufhören werden. Das sind die Momente, in denen ich mich am einsamsten fühle, wenn alle Welt schläft

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