Als ich unsichtbar war
Schließlich handelt es sich ja nur um einen Apparat, eine Maschine. Er kann nicht sein, was er nicht ist.
Im Laufe der Zeit fühle ich mich mehr und mehr wie Nummer 5, da der Berater genau wie andere Leute auch nicht recht zu wissen scheint, was er mit mir anstellen soll, wenn ich zu kommunizieren versuche. Anfangs, als ich wieder in die Welt eintauchte, habe ich es nicht wahrgenommen, da ich in einem Rausch der Begeisterung, wenigstens ein paar Wörter sagen zu können, nicht klar sehen konnte, wie andere Menschen auf mich reagierten. Doch jetzt beobachte ich, wie der Berater an die Decke starrt und seine Fingernägel begutachtet, während er darauf wartet, dass ich rede. Oder ich höre ihn ungestört weiterreden, während ich in dem Versuch, eine Frage zu beantworten, die er zehn Sätze zuvor gestellt hat, hoffnungslos hinterherhinke. Ich bin total frustriert – so wie es mir häufig ergeht, wenn ich mich mit anderen Leuten unterhalte.
Ich ärgere mich zunehmend über eine Welt, die ich oft nicht verstehe, doch ich bin auch nicht ganz unschuldig daran. Als ich noch der Geisterjunge war, konnte ich die Menschen einschätzen: Wenn sie etwas ablehnten, anzweifelten oder bekämpften, konnte ich es sehen; wenn sie etwas lobten, jemanden hänselten oder scheu waren, merkte ich es auch. Doch jetzt bin ich kein Außenstehender mehr. Ich betrachte Dinge aus einem anderen Blickwinkel. Manchmal kann ich nicht ausmachen, wie sich die Leute mir gegenüber verhalten, wenn ich mit ihnen zu interagieren versuche. Meine sämtlichen Bezugspunkte haben sich geändert. Es ist, als könne ich andere nur einordnen, wenn sie nichts mit mir zu tun haben: Wenn jemand grob ist, bemerke ich es nicht; wenn er ungeduldig ist, sehe ich es nicht.
Als Mam und ich kürzlich einkaufen waren, trafen wir eine Frau, deren Sohn mit mir in einer Schulklasse gewesen war.
»Wie geht es Martin?«, fragte sie meine Mutter.
Die Frau schaute mich nicht einmal an.
»Warum fragen Sie ihn nicht selbst?«, erwiderte Mam.
Doch die Frau brachte es nicht über sich, Augenkontakt mit mir herzustellen oder eine einfache Frage an mich zu richten. Mir erschien das fast normal, denn nachdem ich so viele Jahre unsichtbar gewesen war, ist es manchmal selbst für mich noch schwierig, mir in Erinnerung zu rufen, dass ich es nicht mehr bin. Meine Mutter war stocksauer über die Art, wie die Frau mit mir umging, und lediglich durch ihre Reaktion wurde mir klar, dass mich jemand geringschätzig behandelt hatte.
Das geschieht häufig. Als ein Fernsehteam ins Kommunikations-Institut kam und Professor Alant mich dem Regisseur vorstellte, erkannte ich erst im Nachhinein, dass etwas vorgefallen war.
»Ich komme aus Kanada«, sagte der Mann mit überlauter Stimme und jede einzelne Silbe betonend. »Das ist ein sehr langer Weg von dort hierher.«
Ich starrte den Mann an und fragte mich, weshalb er mir etwas derart Banales mit so lauter Stimme erzählte. Nur durch die empörten Mienen meiner Kollegen wurde mir bewusst, wie unmöglich er sich benommen hatte.
Meine Mutter war es, die beschlossen hatte, ich solle diesen Berater aufsuchen, nachdem ich meinen Eltern ein wenig davon erzählt hatte, was mir in all den Jahren in den Heimen widerfahren ist. Sie glaubt, ich sei wütend über das, was ich ihr berichtet habe, und deshalb solle ich mit jemandem reden. Doch mir geht es darum, nach vorn zu schauen, statt zurückzublicken. Trotzdem werde ich jede Woche hierhergebracht, um den Berater zu treffen. Nachdem meine Mutter mich in sein Büro begleitet und geprüft hat, ob mein Laptop richtig funktioniert, lässt sie uns alleine, und ich versuche alles zu verstehen, was geschehen ist.
»Sie müssen akzeptieren, dass Sie sehr intelligent sind«, erzählt mir der Berater ein ums andere Mal.
Ich weiß nicht, was ich ihm antworten soll, wenn er mir das sagt. Es ist, als wolle der Satz nicht bis in mein Gehirn durchsickern. Der Gedanke ist zu gigantisch, um in mein Bewusstsein zu passen. Jahre habe ich damit verbracht, als Idiot behandelt zu werden, und jetzt verklickert mir dieser Mann, der dafür bezahlt wird, mein Freund zu sein, dass ich clever bin?
»Die meisten Menschen verfügen über Mittel, ihre Emotionen auszudrücken«, sagt er. »Sie können Türen zuknallen oder schimpfen und fluchen. Sie aber haben nur Worte, Martin, und das macht es so schwierig für Sie, Ihre Emotionen zu zeigen.«
Dann lehnt er sich in seinem Sessel zurück, schaut mich ernsthaft an, und ich bin
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