Als ich unsichtbar war
du etwa, du wärst besonders schlau?«, brüllt sie. »Meinst du, du könntest dich ums Essen drücken, indem du anfängst zu kotzen?«
Ich sehe, wie sie den Löffel auf den Teller zu bewegt. Sie schiebt ihn durch das Erbrochene und füllt ihn bis zum Rand, um ihn mir dann vor den Mund zu halten. »Friss!«
Ich öffne den Mund. Mir bleibt keine Wahl. Ich muss mich zwingen, das Essen hinunterzuschlucken, das mein Körper soeben verweigert hat, und ich bete, er möge es nicht wieder tun, sonst steht mir Schlimmeres bevor.
Die Frau hat dies schon früher getan, und sie wird es auch später wieder tun. Ich habe gelernt, dass ich nicht weinen darf, denn das macht sie noch wütender.
Als mir der Löffel in den Mund gestoßen wird, höre ich schallendes Gelächter. Es gelingt mir, die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken. Die Frau grinst und genießt ihren Triumph.
*
Dies ist einer der Gründe, weshalb ich das Heim auf dem Land dermaßen hasste: Eine Frau marterte mich, und die anderen Pflegerinnen schauten lachend zu. An manchen Tagen wurde ich nur gezwickt oder geschlagen, an anderen wurde ich einfach draußen in der sengenden Hitze gelassen oder musste nach einem Bad so lange an der kalten Luft frieren und zittern, bis es der Frau gefiel, mich anzuziehen.
Es gab Momente, in denen ich mich fragte, ob sie sich mit ihrer eigenen Gewalttätigkeit nicht auch selbst Angst einjagte: Nachdem sie mir einen so brutalen Einlauf gemacht hatte, dass ich blutete, steckte sie mich in die Badewanne, und ich sah, wie sich das Wasser leuchtend rot färbte. Dann holte sie mich aus der Wanne, tauchte eine Zahnbürste in das verdreckte Wasser und putzte mir damit die Zähne. Später, nachdem sie mich auf die Toilette gesetzt hatte, starrte ich unter mich in die Kloschüssel und bemerkte, dass sich das Wasser erneut rot färbte. Ich dankte Gott, endlich sterben zu dürfen, und musste über die Ironie des Schicksals lachen, dass ausgerechnet ein blutendes Arschloch meinem Leben ein Ende setzen würde.
Sobald ich zusammenzuckte, wenn sie mich berührte, schlug sie mich derart kräftig, dass es mir die Luft aus der Lunge presste. Oder sie verpasste mir einen Schlag auf den Hinterkopf, wenn ich heulte, weil sie mich so lange in meinem eigenen Kot sitzen ließ, bis sich meine Haut dunkelrot färbte.
Jeden Tag zählte ich die Minuten und wartete sehnsüchtig, dass er zu Ende gehen möge, wieder vierundzwanzig Stunden weniger bis zu meiner Rückkehr nach Hause. Gewöhnlich blieb ich nur ein paar Tage im Heim, doch einmal dauerte es sogar sechs Wochen, und Panik ergriff mich jedes Mal, wenn das Telefon klingelte. War es ein Anruf, in dem mitgeteilt wurde, meine Eltern seien bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen? Würde ich hier für immer bleiben müssen, als Gefangener einer Einrichtung, in der sich niemand an mich erinnerte? Die Angst wuchs von Tag zu Tag in mir, bis ich sie fast riechen konnte. Wenn meine Mutter oder mein Vater mich dann endlich abholen kamen, musste ich hilflos mit anhören, wie ihnen gesagt wurde, ich habe wieder einen angenehmen Aufenthalt genossen.
Schon auf der Rückfahrt nach Hause konnte ich mich nicht von der Angst lösen, denn die Frage stand im Raum, ob man mich nicht bald wieder dorthin schicken würde. So oft kam es zwar nicht vor, dass ich in das Heim musste – vielleicht ein- oder zweimal im Jahr –, doch sobald ich ins Auto gesetzt wurde und wir die Stadt verließen, begann ich zu weinen, wenn mir klar wurde, wohin die Reise führte. Das Rumpeln des Wagens an einem Bahnübergang sagte mir, dass wir uns dem Heim näherten, und ich horchte auf die vom Unterboden abprallenden Steinchen der Schotterpiste. Während mir mein Herz bis zum Hals schlug und es mir die Kehle zuschnürte, wollte ich schreien, und ich überlegte, ob ich meine Eltern nicht dazu bringen konnte, meine Gedanken zu hören, wenn ich es nur laut genug versuchte.
Doch vor allem anderen erhoffte ich mir, während ich völlig hilflos und ausgeliefert festgeschnallt auf meinem Sitz saß, dass sich jemand zu mir umdrehte. Müssten sie dann nicht sehen, was mir ins Gesicht geschrieben stand? Angst! Ich wusste, wo ich war. Ich wusste, wohin es ging. Ich hatte Gefühle. Ich war nicht nur ein Geisterjunge. Doch niemand drehte sich um …
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Ä hnliche Dinge passierten auch in anderen Einrichtungen, in denen Kinder und Erwachsene zu schwach, stumm oder mental wehrlos waren, um ihre Geheimnisse, ihre Leidensfähigkeit mitteilen
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