Als ich unsichtbar war
wieder mal ratlos, welche Antwort von mir erwartet wird. Ich habe das Gefühl, ein Spiel mitspielen zu sollen, von dem ich nicht die geringste Ahnung habe. Obwohl ich dem Berater wunschgemäß jeden Tag brav eine E-Mail schicke, in der ich ihm mitteile, wie ich mich fühle, antwortet er nur selten. Und wenn ich ihn dann sehe, überschüttet er mich mit Plattitüden, die ich nicht verstehe. Ich frage mich, ob er wirklich daran interessiert ist, was ich denke, oder ob ich nur eine faszinierende Fallstudie für ihn bin. Wird er mir helfen, jene Probleme zu lösen, die ich noch nicht mal in Betracht gezogen habe, als ich davon träumte, irgendwann sprechen zu können? Oder ende ich als Objekt einer wissenschaftlichen Studie über den Mann ohne Stimme?
Der Berater starrt an die Decke und wartet, dass ich zu sprechen beginne. Was soll ich sagen? Dass ich erwartet hatte, mein Leben würde sich total ändern, als ich zu kommunizieren anfing, und dass ich jetzt weiß, nichts wird sich ändern? Dass meine größte Schwierigkeit nicht das Erlernen von Kommunikation ist, sondern wie oder ob man mir zuhört? Dass die Leute nicht hören, was sie nicht hören wollen, und dass ich keinerlei Möglichkeit habe, sie zum Zuhören zu zwingen?
Frostig und unschlüssig starre ich ihn an. Ich weiß, dass ich versuchen muss, über die Gefühle zu reden, die ich vor Jahren tief in mir begraben habe, dass ich eine Vergangenheit ausgraben muss, der ich jede Nacht versuche davonzulaufen, wenn ich einschlafe. Obwohl ich meinen Eltern bruchstückweise über die Ereignisse von damals berichtet habe, ist mir klar, dass es sich um ein Minenfeld handelt, über das sie nicht mit mir gehen möchten, aus Furcht, damit eine gewaltige Explosion auszulösen. Auch ich habe Angst, den fragilen Frieden zu zerstören, den wir gefunden haben. Ich will es nicht in Worte fassen, nicht einmal gegenüber einem Fremden in einer anonymen Umgebung, weil ich sonst eine Büchse der Pandora öffne, die ich nie wieder schließen könnte. Doch ich weiß, dass ich versuchen muss, einiges von dem herauszulassen, was ich gesehen habe; ich muss mich bemühen, es für diesen Mann in Worte zu kleiden, der so ruhig und schweigend vor mir sitzt.
Mein Puls rast bei dem Gedanken an ein Bekenntnis. Was mir angetan wurde, ist eine Finsternis, die mich ständig begleitet, und ich fürchte, wenn ich nicht darüber rede, wird sie mich ewig gefangen halten und foltern.
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35
Erinnerungen
F riss endlich, du Scheißaffe!«, brüllt mich die Pflegerin an.
Ich starre auf das graue Gehackte, das auf dem Löffel vor mir liegt. Ich bin einundzwanzig Jahre alt und immer noch der Geisterjunge.
»Friss!«
Ich öffne den Mund, und glühend heißes Essen wird mir hineingeschaufelt. Ranziger Geschmack füllt meine Mundhöhle. Gallenflüssigkeit steigt mir in die Kehle. Ich zwinge mich, zu schlucken.
»Und noch einen.«
Gehorsam öffne ich den Mund. Ich weiß, dass ich versuchen muss, an etwas anderes zu denken, um meinen Magen davon zu überzeugen, dass er annimmt, was ihm geboten wird. Ich schaue mich im Raum um. Die nervtötenden weichen Klänge klassischer Violinmusik ertönen im Hintergrund, während ich auf die anderen Kinder blicke. Einige weinen; andere sind still. Mein Rachen brennt, als ich schlucke.
»Mach hin, du Idiot! Wir brauchen ja noch Stunden, wenn das in diesem Tempo so weitergeht.«
Der Metalllöffel knallt gegen meine Zähne, als sie mir den nächsten Bissen gewaltsam in den Mund schiebt. Ich wünsche, sie ließe mich hungrig, doch ich weiß, das wird sie nicht tun.
»Friss!«
Sie reißt mich an den Haaren – zwei kurze Zupfer, die mir die Tränen in die Augen treiben –, dann hält sie mir den nächsten Löffel vor den Mund. Meine Lippen umschließen ihn, und mein Herz beginnt zu rasen, während ich schlucke. Ich spüre, wie Übelkeit in mir aufsteigt. Mir darf nicht schlecht werden. Ich atme tief durch.
»Komm schon, du Irrer! Was ist heute los mit dir?«
Der nächste Bissen nähert sich meinem Mund, und der üble Gestank steigt mir in die Nase. Zu spät, ich kann es nicht mehr zurückhalten und spüre, wie mir das Essen hochkommt. Ich kann nichts dagegen unternehmen, wie verzweifelt ich mich auch bemühe.
»Du elendes Stück Scheiße!«, schreit die Frau.
Ich bin von oben bis unten voller Erbrochenem, der Teller mit dem Essen auch.
Die Pflegerin gibt mir ein paar Ohrfeigen. Sie ist so dicht an mir dran, dass ich ihren heißen Atem am Hals spüre.
»Meinst
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