Als ich unsichtbar war
das Leben nicht auf Armeslänge erfahren werden kann wie ein wissenschaftliches Projekt. Es muss gelebt werden, und viel zu lange habe ich versucht, es unter Kontrolle zu halten, indem ich mich in Arbeit und Studium vergraben habe.
Jetzt verstehe ich, wie es dazu kommen konnte. Lange Zeit wusste ich nicht, wie ich mich in dieser Welt verhalten sollte. Ich fand sie verwirrend, ich hatte keine Orientierung, und in mancherlei Hinsicht war ich wie ein Kind. Damals glaubte ich, gut und schlecht seien weiß und schwarz, wie ich es über viele Jahre hinweg im Fernsehen gesehen hatte, und ich äußerte die Wahrheit genau so, wie ich sie sah. Doch schon bald erkannte ich, dass die Menschen die Wahrheit nicht immer hören wollen. Was vielleicht als richtig erscheinen mag, muss es nicht zwangsläufig sein. Das war hart für mich, denn das meiste von dem, was ich lernen musste, war unsichtbar und unausgesprochen.
Die größte Herausforderung für mich war das Durchschauen des komplexen Netzes von Verhaltensweisen und Hierarchien, in dem sich meine Kollegen bewegten. Mir war klar, dass das Verständnis für diese Gesetze mir in vielerlei Hinsicht behilflich sein würde, aber ich war viel zu ängstlich, es überhaupt zu versuchen, vor allem aus der Furcht heraus, Fehler zu machen. Statt mich bei Besprechungen zu melden und ein paar Anmerkungen zu machen, für deren Erstellung auf dem Computer ich Stunden investiert hatte, für den Fall, dass ich sie brauchte, blieb ich stumm. Wenn mir jemand sagte, er spiele gerade ›Babysitter‹ für mich, starrte ich ihn nur an und wusste nicht, was ich erwidern sollte.
Nach und nach habe ich aber gelernt, meinem eigenen Urteil zu trauen – auch wenn es manchmal falsch ist –, nachdem ich festgestellt habe, dass es im Leben um die Schattierungen von Grau geht, nicht um Schwarz oder Weiß. Und das Wichtigste, das ich gelernt habe, ist die Art und Weise, wann und wie ich Risiken eingehen muss, denn bevor ich zu kommunizieren begann, hatte ich ja nicht die geringste Erfahrung damit. Doch als ich dann meinen ersten Job hatte, war ich dazu gezwungen, da ich wusste, dass es auf der Karriereleiter kein Weiterkommen gab, wenn ich es nicht versuchte. So investierte ich viele Überstunden, hielt den Mund, wenn mir Tätigkeiten aufgetragen wurden, die ich nicht verstand, und unterdrückte meine Enttäuschung, wenn Kollegen für eine Arbeit gelobt wurden, an der ich meines Erachtens großen Anteil hatte. Andererseits begegnete ich vielen Leuten, die mir halfen und Anleitungen gaben, mir zuhörten und mir Mut zusprachen, wenn ich an mir selbst zweifelte.
Vermutlich kann man sich gar nicht vorstellen, wie schwierig es phasenweise für mich war, an mich selbst zu glauben. Wenn ich da alleine saß und ein kompliziertes Computerproblem zu lösen versuchte, verfolgten mich die Geister all jener Jahre, in denen ich als Idiot behandelt worden war. Erst als ich zu arbeiten begann, drang zu mir durch, in welchem Ausmaß mir die Notwendigkeit von Gewohnheit und Routine durch meine Jahre in den Pflegeheimen eingebläut worden war und wie tief das saß. Alles in mir schrie nach Weiterentwicklung, doch immer wieder fühlte ich mich auf verlorenem Posten, versunken in Selbstzweifeln, und es war mir unmöglich, mich mal zu entspannen.
Vielleicht war dieses Gebundensein an Routine der Grund, weshalb ich es so schwierig fand, Jobs aufzugeben, nachdem ich sie einmal bekommen hatte – ob es nun das Gesundheitszentrum war, in dem ich meinen ersten Job fand und in der Registratur arbeitete und Fotokopien machte, oder das Kommunikations-Institut, in dem ich die Chance erhielt, mich weiterzubilden. An jedem dieser Orte fühlte ich mich sicher, und es war schwer, diese Sicherheit aufzugeben.
Während der Wechsel in einen Ganztagsjob beim Wissenschaftlichen Forschungsinstitut, wo ich heute beschäftigt bin, in mancherlei Hinsicht nervenaufreibend war, zwang er mich gleichzeitig, mich an Freiheiten zu gewöhnen, denn plötzlich befand ich mich in einem Umfeld, in dem sich mein Arbeitspensum oder Aufgabengebiet unerwartet ändern kann und Abgabetermine ohne Vorwarnung verschoben werden. Anfangs empfand ich es als belastend, von lauter qualifizierten und erfahrenen Leuten umgeben zu sein, während ich mir im Alter von achtundzwanzig Jahren Lesen und Schreiben selbst beibrachte und die meisten meiner Kenntnisse dadurch erarbeitete, dass ich alleine vor einem Computer saß. Ich war sicher, mit meinen Kollegen nicht mithalten,
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