Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pistorius Martin
Vom Netzwerk:
ich keine Ahnung habe, weshalb ich darüber nachdenke, kann ich jetzt aus irgendeinem Grund nicht mehr damit aufhören. Es ist, als hätte ich etwas verloren, obwohl ich mir nicht sicher bin, was es ist.«
    Ich wollte sie trösten, wusste zunächst aber nicht, wie ich es anstellen sollte. Nach so vielen Jahren war meine Stummheit eine Selbstverständlichkeit für mich, und schon vor langer Zeit hatte ich aufgehört, einer Stimme nachzutrauern, an deren Existenz ich mich nicht einmal mehr erinnern kann; doch ich verstand, dass Joanna etwas äußerst Kostbares vermisste.
    Ein paar Tage danach unterhielten wir uns gerade online, als ich die Tastatur meines Laptops bediente, um mein Kommunikationssystem zu aktivieren. Ich benutze es nur selten im Gespräch mit Joanna, da meine Hände mittlerweile kräftig genug sind, mit den Fingern zu tippen, während wir uns unterhalten, und mein Laptop ist nicht kompatibel mit unserer Internet-Telefonverbindung. Doch seit sie davon gesprochen hatte, sie wolle meine Stimme hören, hatte ich verbissen an etwas für sie gearbeitet.
    »Hör mal!«, schrieb ich. »Da ist etwas, das ich sagen will.«
    Sie schwieg, und ich drückte auf eine letzte Taste meines Laptops.
    »Joanna«, sagte eine Stimme.
    Es war Perfect Paul, und er sprach Joannas Namen so aus, wie ich es ihm eingegeben hatte, nachdem ich Stunden damit verbracht hatte, die Aussprache der Vokale und Konsonanten zu enträtseln. Statt sich der englischen Sprechweise – Jo-A-nA – zu bedienen, hatte Perfect Paul es nach der afrikaansen Version ausgesprochen, wie sie es zu hören gewöhnt ist: Jo-nAH.
    »Ich liebe dich!«, sagte Perfect Paul.
    Joanna lächelte, bevor sie laut zu lachen begann. »Danke!«
    Vor kurzem schickte ich ihr einen Brief mit der Fotokopie meiner Hände, nachdem sie mir wieder und wieder gesagt hatte, sie sehne sich danach, sie zu berühren.
    »Jetzt habe ich dich bei mir«, sagte sie lächelnd aus einer weit entfernten Welt.
    Es ist wahr, in jedem Leben gibt es sowohl Salz als auch Zucker. Ich hoffe, wir werden immer beides miteinander teilen.

----
    50
Fallen
    I m Englischen heißt es, Menschen ›fall in love‹, wenn sie sich verlieben. Man gleitet, schlittert oder stolpert eben nicht hinein, sondern man stürzt sich in dem Moment, in dem man sich entschieden hat, gemeinsam mit jemandem vom Rand einer Klippe zu springen, kopfüber in die Tiefe, um erst danach zu sehen, ob man gemeinsam fliegt. Liebe ist vielleicht irrational, aber man entschließt sich, alles zu riskieren. Ich weiß, dass ich mit Joanna ein Wagnis eingehe, denn es wird immer einen leisen Zweifel geben, wenn auch nur einen winzigen, bis wir uns getroffen haben. Die größte Erkenntnis allerdings, die ich durch sie gewinne, ist, dass es im Leben darum geht, Risiken auf sich zu nehmen, auch wenn sie einem Angst einjagen.
    Es war ungefähr eine Woche nach unserem ersten Kontakt, dass ich das Wagnis einging, mich in Joanna zu verlieben. Sie hatte mir eine E-Mail geschickt, und ich wollte gerade antworten, als ich plötzlich innehielt.
    ›Gehe ich schon wieder ein Risiko mit meinem Herzen ein?‹, dachte ich. ›Setze ich erneut alles aufs Spiel?‹
    Die Antwort kannte ich unmittelbar, nachdem ich die Frage gestellt hatte, denn der Preis, um den es hier ging, war schließlich das, was ich mir am sehnlichsten wünschte. Ich wusste, was ich zu tun hatte. Doch ich schwor mir, dass ich für den Fall, wirklich die wahre Liebe zu finden, eine Liebe, die den unausweichlichen Stürmen eines lebenslangen Miteinanders standhalten sollte, niemandem etwas vorgaukeln dürfte, das ich nicht bin. Ich wollte Joanna gegenüber total ehrlich sein, egal, worum es gehen mochte – ob es nun der Missbrauch war, den ich erlitten hatte, meine Pflegebedürftigkeit oder das Verlangen, mit einer Frau zu schlafen –, denn ich durfte nicht zulassen, dass mich die Angst zu einem Versteckspiel zwang.
    Manchmal fühlte ich mich mutig, wenn ich ihr gewisse Dinge erzählte, dann wieder war meine Furcht vor Zurückweisung das Schreckgespenst, das mich heimsuchte, doch letztlich überwand ich mich, mich weiter zu öffnen. Alles, was ich seit jenem Tag gelernt habe, als ich in einen Raum geschoben und aufgefordert wurde, meinen Blick auf ein Bild mit einem Ball zu konzentrieren, hat mich in die Lage versetzt, jetzt mein Herz aufs Spiel zu setzen. Die Lektionen waren zuweilen schmerzhaft; doch Teil dieser Welt zu sein, Fehler und Fortschritte zu machen, hat mich gelehrt, dass

Weitere Kostenlose Bücher