Als ich unsichtbar war
gemeinsam hatten. Das passiert häufiger, wie ich gehört habe.«
Einen Moment lang bin ich unsicher, wie ich meine Mutter davon überzeugen soll, dass ich weiß, was ich tue. Das ist so, als wolle man einem Farbenblinden erklären, der Himmel sei blau, wenn er überzeugt ist, dass er grün ist.
»Joanna und ich kennen uns zu gut, als dass so etwas passieren könnte«, buchstabiere ich ihr in meinem Alphabet. »Wir sind uns unserer Gefühle sicher. Alles wird bestens, wenn wir uns sehen.«
»Ich hoffe es für dich, Martin«, sagt sie. »Von ganzem Herzen.«
Ich verstehe ihre Angst. Ihr Sohn spreizt seine Flügel zwei Jahrzehnte später, als es normal gewesen wäre. Auf diesen Moment hat sie lange gewartet, und jetzt, da er gekommen ist, erfasst sie Furcht. Mein ganzes Leben lang wurde ich fast wie ein Kind gehalten: Anfangs als Geisterjunge, und danach waren meine Eltern jahrelang an jedem Schritt meiner Entwicklung beteiligt. Es ist hart für sie, sich vorzustellen, dass ich ohne sie um die halbe Erde fliege, und ich habe Verständnis für sie, denn ich bin ebenfalls besorgt.
Bisher habe ich erst einen kurzen Inlandflug absolviert, bei dem ich auf mich selbst gestellt war; um Joanna zu treffen, muss ich Ozeane überqueren, und es müssen so viele praktische Dinge in Betracht gezogen werden. Ich weiß, meinen Eltern geht es einzig und allein um meine Sicherheit, doch ich weiß auch, dass ich nicht den Rest meines Lebens damit verbringen will, mich von ihren Erwartungen und Ängsten zu lösen. An einem bestimmten Punkt muss ich mich ohne sie ins Unbekannte stürzen.
»Was ist, Liebling?«
Eine Nachricht von Joanna erscheint auf dem Bildschirm. Ein paar Minuten zuvor habe ich ihr eine SMS geschickt, dass ich mit ihr reden müsse.
»Gott sei Dank, dass du dich meldest«, antworte ich ihr. »Ich muss dir dringend etwas erzählen.«
Ich berichte ihr, was meine Mutter getan hat und wie unsicher ich bin, auf welche Weise ich sie davon abbringen soll, etwas zu tun, das sie selbst für das Beste hält.
»Weshalb hat deine Mutter denn überhaupt etwas damit zu schaffen?«, schreibt Joanna, nachdem ich ihr alles erklärt habe.
»Weil sie erfahren hat, dass ich die Flüge buchen will, und jetzt sagt sie, sie habe Angst, dass sich der Preis erhöhen könne, wenn ich die Tickets nicht schon bald bekäme«, antworte ich.
Ich brauche ja nicht zu sagen, dass Mam auch befürchtet, zwischen Joanna und mir könnte es während meines Besuchs in England zu einem Bruch kommen, wodurch ich dann auf einem nutzlosen Flugticket sitzen bleiben würde.
»Kannst du sie denn nicht davon abhalten?«, fragt Joanna. »Sag ihr doch einfach, dass wir es gemeinsam organisieren.«
»Ich will es versuchen. Aber ich bin nicht sicher, dass sie damit einverstanden ist.«
»Sie muss!«
Für eine Minute ist Funkstille auf meinem Bildschirm.
»Langsam werde ich sauer«, schreibt Joanna schließlich. »Ich verstehe nicht, was deine Mutter das Ganze überhaupt angeht. Ist das nicht deine Sache? Wenn du Hilfe bei irgendetwas brauchst, bin ich für dich da.«
Ich würde ihr gerne erläutern, dass die Dinge nicht so einfach liegen. Bis jetzt haben wir uns immer so gut verstanden, doch plötzlich befürchte ich, dies könnte das erste Mal sein, dass es uns nicht gelingt.
»Das macht mich alles stocksauer«, schreibt sie. »Warum sagst du ihr nicht einfach, sie soll sich da nicht einmischen?«
Noch nie haben wir so kurz vor einem Streit gestanden, und ich habe Angst. Wie soll ich mich gegenüber einer Frau rechtfertigen, die als Mädchen den Busch durchstreifte und in tiefem Wasser schwamm? Wie soll ich Verständnis für mich wecken, wenn unsere Lebenserfahrungen dermaßen unterschiedlich sind?
»Meine Eltern sind es, die mich morgens aus dem Bett heben«, schreibe ich. »Und sie sind es auch, die mir beim Anziehen helfen, mich am Frühstückstisch füttern, mich waschen, zur Arbeit fahren und mich abholen. Was soll ich tun, wenn ich sie so sehr verärgere, dass sie das alles nicht mehr tun wollen? Natürlich weiß ich, dass es dazu nicht kommen würde, weil sie mich lieben und niemals etwas tun würden, das mir schadet. Aber auch wenn man etwas weiß, heißt das noch lange nicht, dass man keine Angst davor hat, und in einem Rollstuhl zu sitzen bedeutet, in so vielen Dingen auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, dass Menschen, die das nicht sind, keine Ahnung davon haben.«
Auf meinem Bildschirm tut sich für einen Moment erneut nichts. Dann
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