Als ich unsichtbar war
geschweige denn mit ihnen konkurrieren zu können.
Doch nach und nach stellte ich fest, dass es keine Rolle spielt, wie man eine Position erreicht, sofern man sie verdient hat. Mit der Zeit ist mein Selbstvertrauen gewachsen, und ich habe erkannt, dass meine Kollegen sich auf mich verlassen. Es spielt auch keine Rolle, ob ich mich selbst unterrichtet habe, denn im wirklichen Leben geht es um Bilanzen, kleine Siege und geringfügige Misserfolge. Ich habe Jahre damit verbracht, auf Ereignisse zu hoffen, die mein Leben in eine unerwartete Richtung lenken würden. Obwohl ich es verwirrend fand, als diese Ereignisse dann tatsächlich eintraten, erfuhr ich jeden Tag, jede Woche, jeden Monat, dass das Leben genau so ist – unvorhersehbar, unkontrollierbar und spannend.
In vielen Bereichen war ich immer noch von diesem faszinierenden Leben ausgeschlossen, denn ich hatte keine Gelegenheit gehabt, jemanden richtig kennenzulernen und mit einer Frau so verbunden zu sein, wie es nur möglich ist, wenn man sich verliebt. Dann traf ich auf Joanna, und jetzt bin ich darauf vorbereitet, mit ihr das größte Risiko meines Lebens einzugehen. Zum ersten Mal in meinem Leben ist es mir egal, was andere Leute denken, und ich brauche auch nicht zu versuchen, den äußeren Schein zu wahren oder Eindruck zu schinden. Mir ist es ziemlich egal, wenn ich jemanden enttäusche oder meinen Job nicht richtig mache. Seit ich zu kommunizieren begann, habe ich immer versucht, meine Existenz durch Arbeit und Studium, Lernen und Leistung zu rechtfertigen. Aber wenn es etwas gibt, wofür ich mich niemals rechtfertigen werde, dann ist das Joanna.
Vor kurzem erklärte ich ihr, sie solle mich noch einmal genau so sehen, wie ich vor meiner Ankunft in England ausschaue. Ich setzte mich vor den Computer, nahm eine Webkamera in die rechte Hand und führte sie auf und ab, vor und zurück. Zunächst zeigte ich ihr mein Gesicht, dann meine Arme und das weite T-Shirt, das meine Brust bedeckte. Dann hielt ich die Kamera weiter weg, damit sie den Rollstuhl sehen konnte, in dem ich Tag für Tag sitze. Natürlich hatte sie ihn schon früher gesehen, doch jetzt richtete ich die Kamera auf mich und zeigte ihr jedes Detail, sodass nichts verborgen blieb.
Joanna lachte leise, als die Kamera die Metallplatten zeigten, auf denen meine nackten Füße ruhten. »Hobbit-Zehen«, kicherte sie.
Doch selbst als ich in ihrem Gesicht vor mir auf dem Bildschirm nach Anzeichen von Erschrecken oder Verwirrung forschte, war mir klar, dass ich nichts dergleichen finden würde. Nach einer lebenslangen Gewöhnung an solche Blicke erkenne ich diese sofort, aber in Joannas Gesicht fand sich nichts davon, nur ein Lächeln.
»Du bist schön«, sagte sie mit weicher Stimme.
Es ist ihr Glaube an mich, der mir die Sicherheit gibt, das Richtige zu tun, wenn ich alles für sie riskiere.
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51
Klettern
E hrfürchtig starre ich zu der Sanddüne über mir hinauf. Sie flimmert in der Hitze.
»Bist du bereit?«, fragt David.
Ich nicke.
Wir machen Urlaub in Namibia. Mam wurde hier geboren, und nachdem Kim mal wieder aus England zu Besuch gekommen ist, haben wir uns auf die Reise gemacht, um uns das Land anzuschauen, in dem unsere Mutter aufgewachsen ist. Mein Blick ist auf die Düne geheftet, und ich frage mich, wie ich es jemals schaffen soll, dort hinaufzukommen: Sie ist über hundert Meter hoch. Mam und Dad sind losgezogen, um die Gegend zu erkunden, und ich habe David gesagt, ich wolle zur Spitze dieser Düne. Überraschung breitete sich auf seinem Gesicht aus, bevor er aus dem Wagen stieg, meinen Rollstuhl aus dem Kofferraum lud, mir in ihn hineinhalf und mich durch den Sand schob. Jetzt werfe ich noch einmal einen Blick auf die Düne über mir. Ich habe mir vorgenommen, Joanna etwas Sand vom Gipfel mitzubringen. Diese Düne ist eine der höchsten auf der Erde, und die Wüste ist einer ihrer Lieblingsorte.
»Die Stille ist so vollkommen, dass man sich gar nicht vorstellen kann, dass so etwas überhaupt existiert, bis man dort gewesen ist«, erzählte sie mir. »Und die Landschaft ist dermaßen überwältigend, dass sie sich in jeder Stunde des Tages verändert. Selbst der Sand ist dort weicher als alles, was man vorher berührt hat.«
Deshalb möchte ich für Joanna etwas Sand vom Dünengipfel in eine Flasche füllen und diese dann Kim mit nach England geben, als Erinnerung an mich und die Reisen, die sie früher mit ihrer Familie in die Wüste gemacht hat. Die Luft flimmert
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