Als ich unsichtbar war
erscheinen fünf Wörter.
»Es tut mir leid, Liebster!«
Wir vereinbaren, uns abends weiter zu unterhalten, doch zunächst möchte ich meinen Vater sprechen, daher schicke ich ihm eine E-Mail und bitte ihn, in meinem Auftrag mit meiner Mutter zu reden.
Abends fällt kein Wort, bis ich mich nach dem Essen mit meinen Eltern zusammensetze.
»Ich muss mit euch reden«, sage ich mit Hilfe meines Alphabets. »Es ist wichtig.«
Meine Eltern schauen mich an. Mein Herz pocht wie wild. Ich muss mich unmissverständlich ausdrücken, wenn ich ihnen klarmachen will, wie wichtig es für mich ist.
»Ich fliege mit Joanna nach Kanada«, sage ich. »Sie wird mich auf dieser Reise betreuen, weil ich es so will.«
Meine Mutter scheint etwas sagen zu wollen, und ich bete, sie möge lange genug den Mund halten, dass ich meine Rede zu Ende bringen kann.
»Ich weiß, dass ihr es für keine gute Idee haltet, aber es wird Zeit, dass ihr mir vertraut«, sage ich. »Ich muss die Möglichkeit bekommen, eigene Entscheidungen zu treffen und Fehler zu machen. Ihr könnt mich nicht ewig beschützen, und ich bin mir keiner Sache sicherer als dass Joanna und ich es gemeinsam schaffen werden.«
Meine Mutter schweigt einen Moment.
»Wir wollen dich von nichts abhalten, Martin«, sagt sie dann. »Alles, was wir wollen, ist dein Glück.«
»Ich weiß«, sage ich. »Aber wenn ihr das wirklich wollt, dann müsst ihr mir die Chance geben, herauszufinden, was mein Glück ist. Bitte, gebt sie mir. Bitte, lasst es mich tun.«
Meine Eltern schweigen eine Weile, dann steht meine Mutter auf. »Ich werde noch etwas Kaffee machen«, sagt sie ruhig.
Weder meine Mutter noch mein Vater sagen danach noch etwas. Es gibt vieles, das meine Eltern unausgesprochen lassen. Ich kann nur hoffen, dass sie mich dieses Mal ernst nehmen.
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53
Heimkehr
A ls der Flugkapitän durchgab, wir befänden uns über Paris, hatte ich das Gefühl, mein Puls liege bei tausend Schlägen pro Minute und gleich würde mein Herz ganz aussetzen. Jetzt wünsche ich mir fast, es wäre dazu gekommen, als mich ein Mann durch den Flughafen Heathrow schiebt. Joanna befindet sich nur ein paar Augenblicke entfernt auf der anderen Seite irgendeiner Wand in diesem riesigen Gebäude. Ich versuche ruhig zu atmen, doch es gelingt mir nicht. Wird unsere schöne bunte Welt, in der wir während der letzten sechs Monate gelebt haben, zu grauen Schatten verblassen, wenn wir uns endlich begegnen?
»Gleich sind wir da, Sir«, höre ich jemanden sagen.
Ich frage mich, ob das hier vielleicht nur eine Generalprobe ist. Ruft der Regisseur gleich »Danke!«, sodass ich noch ein letztes Mal meinen Text durchgehen kann? Wie sieht er denn überhaupt aus, mein Text? Was werde ich sagen? In meinem Kopf herrscht gähnende Leere.
Der Flug war der reinste Hindernisparcours, den ich Hürde für Hürde zu bewältigen hatte: aus dem Büro nach Hause und das Gepäck holen; zum Flughafen fahren und einchecken; ins Flugzeug gelangen und elf Stunden Flug, ohne etwas zu essen oder zu trinken, um zu verhindern, dass ich mich mit irgendetwas bekleckere und schmutzig aussehe, wenn ich Joanna begegne. Doch wie erwartet, nahm ich sämtliche Hürden.
Nachdem wir gelandet waren, kam ein streng aussehender Beamter an Bord und fragte mich: »Wohin reisen Sie?«
Joanna und ich hatten stundenlang darüber beraten, welche Fragen mir gestellt werden könnten, und ich hatte für den Flug ein spezielles Kommunikationssystem in schriftlicher Form vorbereitet. Doch die Antwort auf diese Frage war nicht darin enthalten, und der Mann wirkte gereizt, während er darauf wartete, dass ich etwas sagte.
»Wohin geht Ihr Anschlussflug?«, fragte er.
Ich starrte ihn an.
»Ihr Reiseziel.«
Er seufzte frustriert, als ich weiter stumm blieb, bis er endlich eine Frage stellte, die ich beantworten konnte.
»Ist London Ihr endgültiges Reiseziel?«
Ich nickte, und er winkte einen älteren Mann heran.
»Er gehört Ihnen«, sagte er, und ich wurde aus dem Flugzeug geschoben und von einem Zollbeamten mit Pokerface vernommen, der meinen Reisepass abstempelte, bevor ich zur Gepäckausgabe gebracht wurde.
Jetzt habe ich eine kilometerlange Reise durch Korridore und Gänge hinter mir und komme zu zwei weißen Türen, die sich automatisch vor mir öffnen. Als ich hindurchgeschoben werde, sehe ich eine lange Absperrung aus Metall, hinter der jede Menge Menschen stehen. Einige halten Schilder hoch und winken damit in meine Richtung; andere stehen
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