Als ich vom Himmel fiel
wieder, dass es ganz und gar unmöglich sei, Brasilien auf diese Art und Weise zu durchqueren. Und genauso natürlich ließ sich mein Vater davon überhaupt nicht beirren. Er fuhr los, zuerst durch unendliche Plantagenlandschaften voller Zuckerrohr und Bananen. Dann kam die Caatinga, eine 70 0 Kilometer breite Dornbuschsavanne, die er zu Fuß durchqueren musste. Wann immer er in Dörfer kam, war er die Attraktion. Und mein Vater infizierte sich gleich an der Lebensfreude der Brasilianer. »Es war immer lustig«, erzählte er später. Nach weiteren 80 0 Kilometern Fußmarsch erreichte er endlich Zentralbrasilien. Als er später auf diese enorme Wanderleistung zurückblickte, meinte er: »An guten Tagen ging ich 4 0 Kilometer. An schlechteren waren es um die 30.«
Blicke ich heute auf diese Weite hinab, kann ich es mir kaum vorstellen, wie es meinem Vater möglich war, diese Strecke zu Fuß zurückzulegen. Jetzt überfliegen wir bei Manaus den Amazonas, der mit seinem weitverzweigten Flussgeäder majestätisch in der Sonne schimmert. Deutlich erkennen wir sein schokoladebraunes Wasser, während wir kurze Zeit darauf über Schwarzwasserflüsse hinwegfliegen, von denen einer, der größte, der Río Negro sein muss.
Mein Vater ging, unbeirrbar auf sein Ziel eingestellt, und das hieß Lima. Und Vater wanderte nicht nu r – er marschierte und beobachtete gleichzeitig! Er kannte die Tierwelt Südamerikas schon aus dem Studium. Doch hier, auf abgelegenen Pfaden durch Savanne und Dschungel, konnte er die Lebensweise vieler ihm unbekannter Spezies beobachten. Er studierte ihr Räuber-Beute-Verhalten, entdeckte konkurrierende Arten und fand sogar Zeit, darüber Tagebuch zu führen. Die Hitze steckte er dabei locker weg. Mittlerweile war er tief gebräunt, und mit dem großen Strohhut auf dem Kopf fiel er in manchen Dörfern kaum mehr auf. Nur wenn er einsame Gehöfte erreichte, löste er meistens Panik aus. Waren ihre Männer nicht zuhause, ließen die Frauen alles stehen und liegen und flüchteten in den Urwald. Trotzdem wurde er meistens freundlich aufgenommen. Und Vater genoss seine neu gewonnene Freiheit: Im Gegensatz zu den kriegsgeschädigten Ländern Europas musste er sich hier nicht ständig verstecken. »Ich spannte meine Hängematte auf, wo immer ich wollte«, schwärmte er später von seinem langen Marsch. Häufig drang er in Wälder vor, die nie ein Mensch zuvor betreten hatte. Da überkamen selbst ihn mitunter so etwas wie Zweifel, ob es tatsächlich richtig war, sich diesen Gefahren auszusetzen. Aber Vater verlor nie das Vertrauen in sich. Fragten ihn Leute, wohin er wolle, antwortete er: »Nach Peru.« Die meisten hatten von so einem Land noch nie etwas gehört.
Und doch war es eines Tages so weit: Am 15 . Mai 1950, genau am Geburtstag seiner Verlobten Maria von Mikulicz-Radecki, erreichte er die Grenze von Peru. Und als ob dieser Zufall nicht ausreichte: Es waren exakt eineinhalb Jahre vergangen, seit er am 15 . November 1948 von meiner Mutter Abschied genommen hatte. Von der Grenze aus durfte er in einer Militärmaschine nach Lima mitfliegen. Doch bin ich mir sicher, mein Vater hätte sich auch nicht davon abschrecken lassen, den Rest des Dschungels sowie das ewige Eis der Anden zu Fuß zu durchqueren.
Drei Jahre nachdem er um eine Stelle angefragt hatte, zwei Jahre nachdem die Antwort des Naturhistorischen Museums Lima bei ihm eingetroffen war, betrat mein Vater dort das Büro des verblüfften Direktors. Dessen Antwort war kurz und bündig: Die Stelle stand leider nicht mehr zur Verfügung. Und so begann für meinen Vater eine neue Odyssee, nämlich die, im gelobten Land auch eine Arbeit zu finden. Die Guano-Gesellschaft, die mit dem Düngemittel aus Vogelkot von Tölpeln, Kormoranen, Pelikanen und Pinguinen viel Geld verdiente, war als Arbeitgeber im Gespräch. Doch als mein Vater sich dort vorstellte, hatte man für ihn keine Verwendung. Da lernte er den Dekan der Universität von San Marcos kennen, der meinem Vater nach einigem Hin und Her vorschlug, die Fischsektion des Naturhistorischen Museums zu betreuen, und sich erkundigte, was mein Vater denn verdienen wollte. Wahrscheinlich hat mein Vater in all den Jahren seiner langen Wanderung darüber nie nachgedacht, denn er nannte eine geradezu lächerlich kleine Summe. Und während meine Mutter gerade auf dem Südseedampfer »Amerigo Vespucci« nach Lima übersetzte, trat mein Vater für ein geringes Gehalt seine erste Stelle in Peru an. Kaum traf Mutter
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