Als ich vom Himmel fiel
Fahrt über acht Stunden, bis man den Höhenzug des Ticlio erreicht hat. Der liegt auf 480 0 Meter, und dabei ist er noch der niedrigste Pass der mittleren und südlichen Anden! Für die meisten Passagiere war das hoch genu g – wer nicht gut beieinander war, litt furchtbar unter der Höhenkrankheit. Ganz in meiner Nähe saß einmal eine hochschwangere Frau, die sich laufend übergeben musste. Je höher man kommt, umso spärlicher wird auch die ohnehin schüttere Vegetation. Trotzdem gibt es immer wieder Dörfer, zu denen sich die Straße in endlosen Serpentinen emporschlängelt. Auf dem Ticlio liegt das ganze Jahr über Schnee, und ganz in der Nähe des Passes, man will es kaum glauben, ist tatsächlich ein Ort. Er heißt La Oroya und wird von Minenarbeitern bewohnt. Eine trostlose Gegend, eine Ansammlung armseliger Hütten mit bunten Wellblechdächern. Tagsüber ist es kalt, und nachts ist es noch kälter, auf eine Art, die einem direkt in die Knochen geht. Kein Wunder sind die Indios der Hochanden immer dick angezogen. Wenn es möglich ist, schlafen sie mit Kind und Kegel und dem gesamten Vieh in einem Raum. Und trotzdem finden Ornithologen da oben sogar Kolibris, die nachts in eine Starre verfallen, in eine Art nächtlichen Winterschlaf, indem sie ihren Stoffwechsel senken und sich so vor der eisigen Kälte schützen. Etwas tiefer gelegen stößt man hier und da auf wild wachsende Molle-Bäume, an denen der auch bei uns bekannte rosa Pfeffer gedeiht, und anderen lichten Baumbestand. Erst wenn man den Ticlio überquert hat, kehrt langsam die Vegetation zurück. Die Blicke fallen hinab in die Flusstäler, die grün sind und fruchtbar.
Es ist eine lange Fahrt: Erst geht es über die Cordillera Negra, die von Flechten und Algen bewachsen ist, welche die Berge dunkel färben. Dann kommt die nächste Gebirgskette, die Cordillera Blanca, aus der weiter im Norden Perus herrliche schneebedeckte Sechstausender aufragen und an die sich der Altiplano anschließt, eine weitläufige Hochebene mit dem Puna-Grasland, bedeckt mit einer stacheligen, gelben Pflanze. Hier gibt es einige wunderschöne Seen, die zu gewissen Zeiten von Flamingos bevölkert werden. Die Farben dieses Vogels gingen in die peruanische Nationalflagge ein. Der Legende nach, die mir meine Mutter erzählte, lag José de San Martín, als er die Republik Peru ausgerufen hatte, einmal am Strand und ruhte sich aus. Da sah er einen Flamingo über sich, und das Rot und Weiß des Vogels inspirierten ihn zu den Farben der Fahne. Im Wappen ist auch das Vikunja dargestellt, eine Kamel-Wildform. Seine Wolle ist noch feiner und weicher als Baby-Alpaka und war früher den Inka-Königen vorbehalten. Neben dem Vikunja ist ein Quinoa-Baum abgebildet, der Perus Pflanzenreichtum symbolisiert. Außerdem ist ein Füllhorn zu sehen, welches Münzen ausschüttet. Schließlich gehört Peru mit all seinen Bodenschätzen eigentlich zu den reichsten Ländern der Welt.
Nach dem Ticlio erreichen wir bald den Altiplano, und dann geht es stundenlang in einer Höhe zwischen 4000 und 500 0 Metern dahin. Auch hier begegnet man höchstens mal einer Minenstadt, wo Kupfer, Wolfram, Wismut und Silber abgebaut werden. Endlich fahren wir wieder bergab und machen bald darauf Station in Huánuco, einer alten spanischen Kolonialstadt in einem der fruchtbaren Flusstäler. Sie liegt 180 0 Meter hoch, für die Verhältnisse der Anden also eher tief. Auf meinen ersten Fahrten haben wir immer hier in der Nähe übernachtet, denn die Straße Richtung Tingo María wurde so schmal, dass sie nur im Einbahnverkehr benutzt werden konnte. Übernachten hieß, man blieb im Bus, sonst konnte es sein, er fuhr ohne einen weiter. Danach kommt ein Landstrich, der Cordillera Azul genannt wird. Er ist dicht bewaldet und schimmert daher bläulich aus der Ferne. Wenn man dann endlich Tingo María erreich t – nun, dann liegen nochmals acht Stunden Busfahrt bis Pucallpa vor einem. Unterwegs erzählte mir meine Mutter immer, welche Vögel wo zu finden waren: Im Nebelwald der Cordillera Azul, gleich bei der Wasserscheide La Divisoria, gab es die herrlichen orangeroten Klippenvögel oder Felsenhähne. Auf einer Anhöhe vor Tingo María, in der Höhle Cueva de las Lechuzas, leben Fettschwalme, in Peru Guácharos genannt. Das sind Nachtschwalben, brachte sie mir bei, die sich mit einer primitiven Echoortung im Dunkeln orientieren und deren Körperfett als Lampenöl Verwendung finde t – daher ihr deutscher Name. Für die
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