Als ich vom Himmel fiel
sind meine Eltern hier bekannte Größen und werden es wohl bleiben.
»Auch du bist eine Berühmtheit«, versucht Alwin mich auf dem Weg zu unserem letzten Abendessen vor unserer Abreise in die Selva zu foppen. »Wenn du es erlauben würdest, dann wäre der Flughafen morgen früh voll mit Journalisten.«
»Bloß nicht«, fahre ich ihn an. Von diesen Auftritten habe ich ein für alle Mal genug. Es genügt, dass mich der Taxifahrer heute Morgen im Rückspiegel nicht aus den Augen ließ und schließlich sagte: »Ich kenne Sie irgendwoher, Señora. Erst dachte ich ja, Sie sind Evita Perón. Aber jetzt weiß ich es: Sind Sie nicht Juliana? Die das Flugzeugunglück überlebt hat?«
Ja, die Menschen erinnern sich heute noch an diese Geschichte, die ich so viele Jahre zu vergessen versuchte. Früher hätte ich das Gespräch vielleicht abgekürzt, doch heute gebe ich freundlich und geduldig Antwort. Ich habe lernen müssen, mit dieser Art von Berühmtheit umzugehen. Heute bin ich bereit, mich meiner Geschichte zu stellen. Ohnehin holt sie mich hier in Lima immer wieder ein. Nicht zuletzt, wenn ich meine Freundinnen von damals wieder treffe, und mit Edith sind wir heute Abend zum Essen verabredet.
Jedes Mal, wenn wir uns sehen, kommt es mir so vor, als hätten wir uns gestern erst getrennt. So vieles verbindet uns, und doch führen wir zwei so grundsätzlich verschiedene Leben. Ja, schon damals war es so, denn Edith hat mich nie in Panguana besucht, weder damals während unserer Schulzeit noch in den Jahrzehnten danach. Aber das macht überhaupt nichts, so wie ich auch in München Freunde habe, die noch nie in Peru waren, oder so wie Moro, der selten aus seinem Urwald herauskommt. Treffe ich Edith, dann weiß mein Mann, dass er sich die nächsten zwei Stunden getrost mit ihrem Mann unterhalten kann, denn wir führen »Frauengespräche«, so wie wir es früher als Teenager schon taten. Auch meine enge Freundin Gaby, die mir während meiner ersten Zeit in Panguana regelmäßig mitteilte, wie weit sie in der Schule in Lima gekommen waren, damit ich den Anschluss an meine Klasse nicht verpasste, besuchen wir in Lima immer wieder gerne.
Damals, nach meinen fast zwei Jahren im Urwald, konnte ich in Lima dank Gabys Hilfe problemlos in meine alte Klasse zurückkehren. Zur Überraschung meiner Lehrer hatten sich meine Noten eher verbessert, ganz besonders in Mathematik. Zunächst wohnte ich in einem Zimmer bei unserem langjährigen Hausarzt, mit dem meine Eltern freundschaftlich verbunden waren. Doch als dessen Tochter von einem Auslandsaufenthalt zurückkam und das Zimmer gebraucht wurde, zog ich in die Wohnung von Ediths Großeltern, die im Haus der Eltern meiner Freundin im ersten Stock lag. Am liebsten wäre ich natürlich wieder in das Humboldt-Haus gezogen, das ich als mein Zuhause betrachtete, doch das war leider nicht möglich. Das Humboldt-Haus als Einrichtung für reisende Forscher existierte nicht mehr, und das Haus hatte jetzt andere Bewohner.
Anfangs sagten meine Freundinnen: »Juliane, warum gehst du denn so komisch?« Da wurde mir bewusst, dass ich mir im Urwald angewöhnt hatte, die Füße immer deutlich vom Boden abzuheben, um nicht über eine Wurzel oder sonst etwas zu stolpern. Wir lachten, und ich gewöhnte es mir wieder ab. Schon damals lernte ich, in verschiedenen Welten zu leben, und ich genoss es. Gegensätzlicher hätten diese beiden Welten nicht sein können. Zum Waschen gingen wir in Panguana an den Fluss, wir schliefen in offenen Indianerhütten, das Essen wurde auf einfachen Petroleumflammen gekocht. In Lima hingegen erlebte ich alle Annehmlichkeiten eines städtischen Lebens.
Meine verbleibenden eineinhalb Jahre in Lima waren eine schöne, unbeschwerte Zeit, die ich mit meinen Altersgenossen verlebte. Trotz meiner Urwalderfahrung war ich eine Schülerin wie alle anderen auch, ich gehörte dazu, und das gefiel mir. In Panguana war ich fast ausschließlich mit meinen Eltern zusammen, hier mit Gleichaltrigen. Ich war ein ganz normaler Teenager, machte mir nicht allzu viele Gedanken, verbrachte meine Ferien in Panguana und die Schulzeit mit meinen Klassenkameraden in Lima.
In den ersten Weihnachtsferien nach meiner Rückkehr nach Lima flog ich zum allerersten Mal ganz allein mit einem Flugzeug von Lima nach Pucallpa. So war es auch für das Weihnachtsfest 1971 geplant gewesen. Damals war ich 17 und hatte gerade meinen peruanischen Schulabschluss hinter mir. Das war nach der elften Klasse, vergleichbar
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