Als ich vom Himmel fiel
ersparte man sich so viele Stunden Fahrt. Früher, bevor es die regulären Fluglinien gab, nahmen wir sogar mitunter Propellerflugzeuge über die Anden, und da diese Maschinen in geringer Höhe fliegen, geht es da immer recht turbulent zu, selbst mir wurde dann manchmal schlecht. Einige Wochen vor jenem Flug am Heiligabend des Jahres 1971 hatte ich mit meiner ganzen Jahrgangsstufe eine achttägige Reise unternommen, der traditionelle »Viaje de Promoción«. Wir flogen nach Arequipa im Süden des Landes, und in einem Brief an meine Großmutter schrieb ich: »Der Flug war herrlich!« Wir besuchten unter anderem Puno, den Titicacasee und Machu Picchu, und von Cuzco aus ging es wieder mit dem Flugzeug zurück nach Lima. Dieser Flug war extrem turbulent, und viele meiner Klassenkameraden fühlten sich nicht wohl. Ich aber war überhaupt nicht nervös, ich fand das Geschaukel damals sogar schön. Ich war so naiv, dass mir überhaupt nicht in den Sinn kam, dass etwas passieren könnte.
Heute ist am Flughafen alles ruhig. Ohne Probleme checken mein Mann und ich bei der Linie Star Peru ein. Danach frühstücken wir in aller Ruhe bei einem der neuen Coffeeshops. Ich versuche so zu tun, als wäre dieser Flug einer von vielen. Und irgendwie ist er das ja auch. Dann ist es Zeit, an Bord zu gehen. Wie immer sitze ich rechts am Fenster. Wer weiß, vielleicht haben wir ja heute schönes Wetter über den Anden. Noch ist die Sonne nicht aufgegangen, und der chronisch bedeckte Himmel von Lima lässt nicht ahnen, wie es über den Kordilleren aussehen wird.
Es stellt sich heraus, dass wir ein Traumwetter für diesen Reisetag erwischt haben: Die Berge sind vollkommen wolkenlos, und in der aufgehenden Sonne erglänzen die Gipfel und Gletscher, die massiven Rücken und ausgedehnten Hochebenen der Anden erst in pastellenen und dann in glühenden Farben. Rund 2 0 Minuten dauert dieses Spektakel, dann fallen die Berghänge im Osten zum endlos weiten Urwald ab, der bereits Teil des Amazonasgebietes ist. Bald kommt die Stelle, wo es damals passiert e …
Der Flug von Lima nach Pucallpa dauert nur eine knappe Stunde. An jenem 24 . Dezember 1971 verlaufe n – ganz so wie heut e – die ersten 3 0 Minuten vollkommen normal. Die Mitreisenden sind aufgekratzt und fröhlich, alle freuen sich auf das Weihnachtsfest zuhause. Nach rund 2 0 Minuten bekommen wir ein kleines Frühstück serviert mit einem belegten Brötchen und einem Getränk, gerade so wie heute auch. Zehn Minuten später beginnen die Stewardessen schon wieder abzuräumen. Und da, ganz plötzlich, geraten wir in eine Gewitterfront.
Und diesmal ist es vollkommen anders als alles, was ich zuvor erlebt habe. Der Pilot weicht dem Unwetter nicht aus, sondern fliegt geradewegs mitten in den Höllenkessel hinein. Es wird Nacht um uns, am helllichten Tage. Blitze zucken unablässig aus allen Richtungen. Gleichzeitig beginnt eine unsichtbare Macht an unserem Flugzeug zu rütteln, als sei es ein Spielzeug. Die Menschen schreien auf, als ihnen Gegenstände aus den offenen Gepäckablagen auf die Köpfe fallen. Ein wahrer Regen aus Taschen, Blumen, Paketen, Spielzeug, verpackten Geschenken, Jacken und Kleidern prasselt auf uns herab. Sandwich-Tabletts machen sich selbstständig, Tassen segeln durch die Luft, halb ausgetrunkene Getränke ergießen sich auf Köpfe und Schultern. Die Menschen bekommen es mit der Angst zu tun, sie kreischen, weinen.
»Hoffentlich geht das gut«, sagt meine Mutter. Ich kann ihre Nervosität fühlen, während ich selbst noch immer ziemlich ruhig bin. Ja, auch ich beginne mir Sorgen zu machen, doch ich kann mir einfach nicht vorstellen, das s …
Da sehe ich auf einmal einen blendend weißen Schein über der rechten Tragfläche. Ich weiß nicht, ist es ein Blitz, der dort einschlägt, oder handelt es sich um eine Explosion? Mein Gefühl für Zeit geht verloren, ich kann nicht sagen, ob das alles Minuten dauert oder nur den Bruchteil einer Sekunde: Ich werde von diesem gleißenden Licht geblendet, während ich gleichzeitig meine Mutter ganz ruhig sagen höre: »Jetzt ist alles aus.«
Heute weiß ich, sie hat in diesem Moment bereits begriffen, was passieren würde. Ich dagegen begreife überhaupt nichts, in mir ist ein großes Staunen, denn jetzt sind nicht nur meine Ohren, mein Kopf, nein, ich selbst bin vollkommen ausgefüllt von diesem tiefen Brausen der Maschine, während sich die Nase des Flugzeugs fast senkrecht nach unten neigt. Wir stürzen. Aber auch diesen
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