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Als ich vom Himmel fiel

Als ich vom Himmel fiel

Titel: Als ich vom Himmel fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliane Koepcke
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befunden.
    Meine Mutter ist also wirklich tot. In diesem Moment, als es zur Gewissheit wird, empfinde ich gar nichts. Und wundere mich über mich. Aber eigentlich, wusste ich es nicht längst? Gab es denn tatsächlich noch Grund zur Hoffnung, 1 9 Tage nach dem Absturz? Meine Gefühlsleere befremdet mich. Müsste ich denn jetzt nicht weinend zusammenbrechen? Weder mein Vater noch ich tun das. Auch er ist ganz nüchtern, und ich weiß heute, dass dies in jenen Tagen unsere Art ist, uns zu schützen: An mir perlt alles ab, als sei ich aus Glas. Und er spricht darüber, als handle es sich um einen seiner wissenschaftlichen Fälle. Was nicht heißt, dass ihn das Ganze nicht beschäftigt. Es beschäftigt ihn sogar sehr, füllt sein ganzes Denken und Fühlen aus.
    Am besten kann mein Vater seine Gefühle durch Zornausbrüche zeigen, und das tut er auch jetzt, gegenüber den Journalisten, die ihn während jener mit Sicherheit schlimmsten Augenblicke seines Lebens belästigen, als er vor den Überresten des Menschen steht, den er am meisten auf der Welt geliebt hat. Oder gegenüber den Behörden, die mit erschreckender Schlamperei arbeiten und seine Gefühle mit Füßen treten. Er wird viel Energie darauf verwenden, völlige Gewissheit darüber zu erlangen, ob jene Leiche in dem Zinksarg Nr . 022, die ihm gezeigt wurde, auch wirklich Maria Koepcke, geborene von Mikulicz-Radecki, gewesen ist.
    Er sagt mir in diesen Tagen, dass er nicht ganz sicher sei, dass ihn Zweifel plagten. Außerdem erzählt er mir, dass der Zustand der Leiche große Fragen aufwerfe. Warum fehlte der obere Teil des Kopfes, wenn die Leiche ansonsten völlig intakt erschien? Und das Verstörendste: Warum war die Leiche in einem so frischen Zustand? Auch ich weiß sehr genau, dass eine Leiche im Urwald höchstens ein paar Tage unversehrt bleiben kann, zu gut erinnere ich mich an die Anwesenheit der Königsgeier, die ich, vier Tage nach dem Absturz, bei den drei Leichen antraf. Ameisen, Käfer, Fliegen, Schildkröten und Geier, spezialisiert auf Aasfraß, finden in kürzester Zeit jeden auch noch so gut verborgenen Kadaver. Warum also war der Körper meiner Mutter noch so gut erhalten? Es gibt nur eine Antwort darauf, und die ist grausam: Sie muss noch lange gelebt haben. Wenn ich es mir recht überlege, kann sie erst vor wenigen Tagen gestorben sein. Wenn das wirklich so ist, was muss sie in den zwei Wochen zuvor gelitten haben? Mein Verstand nimmt diese Information auf, aber mein Schutzmechanismus lässt sie nicht an mich heran. Vielleicht erscheine ich meinem Vater vollkommen gefühlskalt? Da liegt ihre Mutter zwei Wochen hilflos im Urwald und kann sich aus irgendeinem Grund nicht rühre n – vielleicht ist ihr Becken gebrochen oder ihre Wirbelsäul e –, und dieses Mädchen, das ihre Tochter ist, sagt kein Wort. Lehnt sich im Bett zurück und schläft einfach wieder ein. Wacht auf und fragt, wann denn heute die Herren vom »Stern« kommen. Isst zu Abend, als sei nichts geschehen.
    Vielleicht versteht er aber auch, was mit mir los ist. Oder er ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass er sich überhaupt Gedanken über mich macht. Vielleicht geht es ihm ja genauso wie mir, denn er spricht, als sei ein anderer in der Leichenschauhalle gewesen und habe sich dort mit Journalisten geprügelt. Was er damals wirklich denkt und fühl t – ich weiß es bis heute nicht. Wir haben später nie mehr über jene Tage gesprochen.
    Über den verzweifelten Zustand meines Vaters gibt wohl am besten eine kurze Briefnachricht an seine Schwester Auskunft, die er einen Tag nach der Identifizierung schrieb:
    »Gestern habe ich mir die Leiche Marias angesehen. Der Sarg war schon verlötet; alles war schwierig. Ich musste mich mit den Journalisten regelrecht prügeln. Mir wurde der Ehering Marias gezeigt. Ob er an der Hand gefunden wurde, wusste niemand. Die sichere Bestimmung soll durch die Zahnprothese erfolgt sein, aber der obere Teil des Schädels fehlte. Im Übrigen war die Leiche erstaunlich frisch, das heißt nur wenig von Geiern und Insekten zerstört. Nach unseren Erfahrungen mit im Walde ausgelegten Säugetierleichen sollten schon nach etwa 5 bis 6 Tagen nur noch Knochen und Hautteile vorhanden sein. Der eine Fuß war noch relativ gut erkennbar. Es kann Marias Fuß sein (die ja eine sehr charakteristische Zehenform hatte), aber ganz sicher bin ich nicht. Ich möchte Dich bitten, die Leiche dort untersuchen und beurteilen zu lassen. Es ist nicht

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