Als ich vom Himmel fiel
unmöglich, dass Maria noch tagelang gelebt hat und dass die fehlenden Schädelteile später entfernt wurden. Am besten setzt Du Dich wohl mit Johann-Georg [der Bruder meiner Mutter, der selbst Arzt war] in Verbindung. Die übrigen Verwandten brauchen ja zunächst nichts davon zu erfahren. Vor dem 7.1. wurde keine Leiche gefunden. Viele Leichen sind unbestimmbar. Vielleicht braucht man ja Schädel, um die Stückzahl von 91 zu erhalten.«
Solche Gedanken quälen ihn, während ich zur selben Zeit ebenfalls an meine Tante und die Großmutter schreibe. Der Kontrast zwischen unseren Briefen könnte größer nicht sein:
»Da Papi gerade einen Brief schreibt, möchte auch ich Euch ein paar Zeilen schicken. Bitte entschuldigt die schlechte und unregelmäßige Schrift! Es liegt daran, dass ich im Bett schreibe. Außerdem habe ich mir das rechte Schlüsselbein gebrochen, sodass ich vorsichtig sein muss.
Mir geht es schon viel besser. Meine Wunden heilen gut, und ich kann mich schon ganz gut bewegen. Alle Leute sind sehr freundlich zu mir und bringen mir Bücher und Schokolade (leider viel zu viel). Das Essen schmeckt immer sehr gut. Augenblicklich lebe ich im Hause meines Arztes, eines Amerikaners. Es gefällt mir hier gut.
Nun möchte ich meinen Brief beenden, da ich noch einen zu schreiben habe.«
Wenn man bedenkt, dass ich 1 7 Jahre alt und durchaus eloquent bin, dann kann man meinen benommenen Zustand angesichts der schrecklichen Geschehnisse um mich herum, in dem ich mir vorkomme, wie von mir selbst abgeschnitten, aus diesen Zeilen herauslesen. Offenbar bin ich überaus bemüht, allen zu versichern, wie gut es mir geh e – das Wörtchen »gut« kommt in diesem kurzen Schreiben gleich viermal vor! Und das einen Tag nach dem Auffinden der Leiche meiner Mutter.
Heute kommt es mir so vor, als musste ich mir damals selbst immer wieder klarmachen: Es geht dir gut, Juliane, du hast es geschafft! Es geht dir ja so gut. Als ob wenigstens ich meiner Umwelt keine Sorgen mehr bereiten wollte, die in Trauer und Kümmernis aufging.
Erst seit dem Tod meiner Tante im Sommer 2010 weiß ich, dass mein Vater seine Nachforschungen über die Identität der Leiche und deren Todesursache nicht aufgab. Er wollte Gewissheit haben. Doch es war, als wollten ihn die chaotischen und korrupten Umstände in Pucallpa und die verwirrenden Ergebnisse in Deutschland, wohin die Leiche überführt worden war, erst recht zum Narren halten. Durch die schwierigen Umstände der Bergung hatte niemand Fotos von dem Fundort oder der ursprünglichen Lage des Körpers gemacht, die Umgebung war nicht untersucht worden, ja man wusste nicht einmal mit Sicherheit, wo der Schuh gefunden wurde. Was in Deutschland bei jedem Unfall eine Selbstverständlichkeit ist, wurde damals im peruanischen Dschunge l – wohl aufgrund der extremen Bedingungen bei der Bergun g – völlig vernachlässigt. Irgendwann wurden die Toten offenbar einfach nur noch in Säcke gepackt und abtransportiert.
An jenem Tag, als mein Vater vor der Leiche stand, die er für seine Frau hielt und doch auch wieder nicht, war ihm ein Ehering gezeigt worden. Den konnte er einwandfrei identifizieren, denn er trug in seiner Innenseite das Datum seiner Verlobung mit Maria und seinen Vornamen eingraviert. Es war eindeutig der Ehering meiner Mutter. Als mein Vater fragte, ob er an der Hand der Toten gefunden wurde, konnte ihm das niemand bestätigen. Als er ihn behalten wollte, verweigerte man ihm den Ring mit dem Argument, dass zunächst der Richter ihn sehen müsste. Mein Vater sah den Ring nie wieder. Sooft er auch bei jenem Richter, beim Militär und beim zuständigen Krankenhaus nachfragte, keiner wollte je etwas von dem Ring gehört haben.
Der Sarg ist noch im Beisein meines Vaters wieder verlötet und verschlossen worden und ging noch am selben Tag, also am 12 . Januar, auf die Reise nach Lima. Hier balsamiert der Arzt Luis Felipe Roveredo am 13 . Januar die Leiche ein, damit sie den Flug nach Deutschland gut übersteht. Aus dem Garten meines Paten wird ein Sträußchen dem Sarg beigegeben, es stammt von demselben Strauch, aus dem am Tag ihrer Hochzeit ein Kranz für meine Mutter geflochten worden war. Am 14 . Januar findet um 1 8 Uhr in einem Hangar auf dem Flughafen Jorge Chávez in Lima/Callao eine Trauerfeier statt. Freunde berichten uns später, dass die Zeremonie sehr ergreifend gewesen sei und durch das ständige Starten und Landen von Flugzeugen eine besondere Dramatik erhalten habe. Viele
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